Hungerlöhne und Schwarzarbeit in Sotschi

Aus Protest gegen die Ausbeutung auf den Olympiabaustellen näht sich ein Bauarbeiter den Mund zu

  • Wolfgang Jung, Sotschi
  • Lesedauer: 3 Min.
37,5 Milliarden Euro kosten die Winterspiele in Sotschi. Errichtet werden die Sportstätten von Arbeitern, die oft ohne Lohn bleiben. Vorm Besuch von IOC-Chef Bach schlagen Menschenrechtler Alarm.

Ausbeutung, Betrug, Erpressung: Vier Monate vor den Winterspielen in Sotschi beklagen Menschenrechtler auf den Baustellen massive Missstände, die nicht zu den olympischen Glitzerfassaden passen. »Die Beschwerden der Arbeiter nehmen täglich zu - ebenso wie die Repressionen der Behörden gegen die Tagelöhner«, schildert Semjon Simonow von der Organisation »Memorial«. Wie andere Bürgerrechtler wünscht er sich ein klares Wort von Thomas Bach, wenn der IOC-Chef Ende des Monats mit Kremlchef Wladimir Putin Sotschi besucht.

Ein drastisches Mittel für seinen Protest wählte der Arbeiter Roman Kusnezow. Der Mann aus der Stadt Orenburg näht sich den Mund zu und setzt sich mit einem Schild vor den Olympiapark in Sotschi. »Ich muss meine Kinder versorgen«, steht dort. »Leute, helft - so wie mir geht es vielen!« Nach kurzer Zeit habe die Polizei der Schwarzmeerstadt den Arbeiter festgenommen, sagt Romans Kollege Kirill Kusmuk. Der Familienvater warte seit Monaten auf Lohn. »Wir sind schockiert von den Verhältnissen«, sagt Kusmuk der Zeitung »Komsomolskaja Prawda«.

»Mit dieser Verzweiflungstat ist es ihm gelungen, einmal mehr auf die massiven Probleme in Sotschi aufmerksam zu machen«, sagt Simonow. Kusnezow sei Russe und damit immer noch in einer besseren Lage als etwa Migranten aus Tadschikistan oder Usbekistan. Die aus verarmten Ex-Sowjetrepubliken in Zentralasien stammenden Arbeitskräfte würden meist zu Hungerlöhnen und oft illegal beschäftigt. Baufirmen zahlten über Monate keine Löhne und hielten Pässe sowie andere Papiere der Migranten zurück, um sie zu erpressen. Begehrten die Arbeiter auf, würden sie oft schlicht abgeschoben.

Bürgerrechtler vergleichen die Zustände mit der Lage im Wüstenstaat Katar, wo schlimme Zustände für Arbeiter auf den Baustellen der Fußball-WM 2022 ebenfalls für Entsetzen sorgen. In Sotschi berichtet die Organisation Human Rights Watch (HRW) von oft nicht einmal zwei Euro Stundenlohn. Skrupellose Unternehmer würden bis zu 200 Arbeiter in einem Einfamilienhaus unterbringen, viele seien auf den Baustellen etwa in Schichten von zwölf Stunden ohne ausreichende Pause im Einsatz. Ein Viertel der 70 000 Arbeiter in Sotschi seien Ausländer, schätzt HRW-Expertin Jane Buchanan.

Druck auf Arbeiter, aber auch härtere Strafen gegen Demonstranten in Sotschi und Kritik am Verbot von »Homosexuellen-Propaganda«: Rund 110 Tage vor den Spielen beklagen Menschenrechtler Demokratieverstöße wie seit Sowjetzeiten nicht mehr. Zudem prangern Umweltschützer schwere Schäden an. Die Eingriffe gelten als beispiellos, weil fast die gesamte Infrastruktur neu errichtet wird. Die Spiele kosten rund 37,5 Milliarden Euro und sind die bisher teuersten der Geschichte.

An den Mauern des Kreml prallen diese Vorwürfe aber ab - wie schon beim Olympia-Boykott zahlreicher westlicher Länder 1980, als die Sowjetunion in Moskau Sommerspiele ausrichtete. Die Gastgeber verbitten sich die Einmischung in innere russische Angelegenheiten oder zeigen auf Verstöße auch in westlichen Ländern.

Die Appelle der Menschenrechtler würden letztlich wohl wirkungslos bleiben, fürchtet der einheimische Politologe Alexej Makarkin. Auch vor den Sommerspielen in Peking 2008 hätten internationale Organisationen Menschenrechtsverstöße in China angeprangert - ohne ernsthafte Folgen. dpa

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