Ist der Neoliberalismus am Ende?

Ingo Stützle diskutiert die Austeritätspolitik im vereinten Europa

  • Jakob Graf
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Markt und sein einst so guter Ruf als effizienter Verteilungsmechanismus haben seit dem Beginn der aktuellen Krise an Vertrauen und Glaubwürdigkeit eingebüßt. Der Neoliberalismus ist jedoch nicht erst seitdem ein Schimpfwort. Einst gestartet mit den Hoffnungen neuer Schichten im Gepäck - Auflösung starrer Hierarchien, Entfaltung, Kreativität und natürlich Freiheit -, entzündet das Wort heute eher Frucht: Furcht vor Turbokapitalismus, Arbeitslosigkeit und Einkommensverlust. In diesem Kontext scheint das Ende der FDP nicht gerade als eine Überraschung. Aber Vorsicht: Kann man wirklich behaupten, dass der Neoliberalismus mit der liberalen Partei in den Wogen der Geschichte versinkt? Ist die aktuelle Politik in Europa nicht zutiefst neoliberal? In Ländern wie Griechenland gar in kompromisslosester Weise? Ist nicht die ganze Austeritätspolitik ein Zeugnis der Dominanz des Neoliberalismus? Oder sind die staatlichen Sparbemühungen vielmehr politischem Pragmatismus denn einer Ideologie geschuldet? Solche Fragen könnten ein Buch füllen. Und sie tun es. Ingo Stützle spannt den Bogen von der Krise der 1970er Jahre bis zur gegenwärtigen Eurokrise.

Anfang der 1970er Jahre, als neoliberale Sparpolitik noch fern jeder Fantasie lag, schrieben Joan Robinson und John Eatwell in ihrer »Einführung in die Volkswirtschaftslehre«: »Vor 1914 und sogar noch bis in die dreißiger Jahre wurden ökonomische Lehrsätze gewöhnlich mit großer Selbstsicherheit verkündet. Die Pflicht einer Regierung bestand darin, ihr Budget auszugleichen, den Goldstandard aufrechtzuerhalten, Schutzzölle zu vermeiden und die Regeln des Laissez-faire bei ihren Beziehungen zu der Industrie zu beachten.« Zwar gibt es heute keinen Goldstandard mehr, doch die Beschreibung staatlicher Aufgaben liest sich wie die Grundvorgabe moderner neoliberaler Strukturanpassung: Liberalisierung aller Märkte, Geldwertstabilität und natürlich das ausgeglichene staatliche Budget. Was so aktuell erscheint, verweisen Robinson und Eatwell indes in eine Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Selbstsicherheit der staatlichen Politik wurde damals durch eine keynesianische Phase durchbrochen. In den 1970er Jahren endete diese Phase. Das 20. Jahrhundert hat wissenschaftliche Gewissheiten aufgebrochen und neue Wege und Ziele der Politik definiert.

Die von der Neoklassik behauptete unerschütterliche Effizienz des Marktes dürfe nicht durch staatliche Intervention gefährdet werden, fordern die einen. Die anderen bezweifeln, an Keynes orientiert, die natürliche Effizienz der Märkte. Der Staat müsse sich auch zugunsten von Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum einmischen. Aufgrund dieser gänzlich verschiedenen Prämissen kommen die Protagonisten dieser beiden Richtungen zu unterschiedlichen Problemwahrnehmungen und Schlussfolgerungen.

Selbst innerhalb der bürgerlichen Ökonomietheorie gibt es also keineswegs Konsens, auch nicht über eine angebliche objektive Grenze der Verschuldung oder die Bedeutung eines ausgeglichenen Staatshaushalts. Aber beiden Theorien gemein ist, dass eine solche objektive Grenze gar nicht angebbar ist. Stattdessen scheint diese vielmehr einerseits von der jeweiligen ökonomischen Situation und den politischen Kräfteverhältnissen abzuhängen, andererseits vom disziplinierenden Charakter der internationalen Finanzmärkte, auf denen sich die Staaten refinanzieren müssen.

Die Prämisse »gesunder Staatsfinanzen« wird von Stützle als ein Element des neoliberalen Projekts beschrieben. Dass dieses zu einem fundamentalen Element der EU wurde, lässt sich aus dem umkämpften Prozess der europäischen Integration erklären. Deren Darstellung bildet den zweiten Teil des Buches.

Stützle verwendet explizit Marxsche Begrifflichkeiten, um einerseits ökonomische Zusammenhänge als spezifisch kapitalistische denken zu können - wie z. B. diejenigen der Staatsschulden als fiktives Kapital. Andererseits, um zu zeigen, wie ein ausgeglichener Staatshaushalt im Kontext zivilgesellschaftlicher Rückendeckung durchsetzt wird, wie die Interessen ökonomischer Akteure in politische transformiert werden und diese Auseinandersetzungen auch Konflikte zwischen verschiedenen Staatsapparaten verursachen. Die geschichtliche Darstellung wird immer wieder von theoretischen Einschüben unterbrochen. Frankreich und die Bundesrepublik werden als relativ einheitliche Akteure beschrieben.

Die Konflikte um die Austeritätspolitik innerhalb Europas erscheinen als Konflikte zwischen relativ homogenen Staaten bzw. verschiedenen Gruppen von Staaten. Dass innerhalb der jeweiligen Länder unterschiedliche Kapitalfraktionen ganz unterschiedliche Strategien in Bezug auf den Staatshaushalt verfolgen, wird hier - vielleicht, weil es den Rahmen sprengen würde - weniger beleuchtet. Die Relevanz dieser Frage wird jedoch insbesondere vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise seit 2008 deutlich. Wie der Untertitel des Buches von Stützle verspricht, widmet sich der letzte Teil dann auch der aktuellen Krise. Da stellt sich die Frage, ob die Krise zugleich eine Krise des Neoliberalismus ist, noch einmal.

Seit den 1970er Jahren war die Prämisse der »gesunden Staatsfinanzen« ein Moment des neoliberalen Projekts, mit dem es sich gegen eine keynesianistische Wirtschaftspolitik wehrte. Zu Beginn der 2000er Jahre konnte man ein Aufweichen dieses Leitbildes vermuten. Doch im Kontext der Eurokrise taucht es als Austeritätspolitik wieder auf. Wesentlich dafür war, dass die Wirtschaftskrise im herrschenden Diskurs zur Staatsschuldenkrise umgedeutet wurde. Die oberflächliche Interpretation, die Schuldvorwürfe zuerst an die Banken richtete, wandte sich nun den Ländern zu, die angeblich den Euroraum gefährden würden, weil sie maßlos über ihre Verhältnisse lebten. An der Verbreitung der daraus folgenden Konklusion, dass die Länder sparen müssten, und aus der vorherrschenden Austeritätspolitik lässt sich schließlich die ungebrochene Dominanz des Neoliberalismus ablesen.

Bedeutet dies jedoch zugleich eine Dominanz der nordischen Länder über die südeuropäischen, wie Stützle an mancher Stelle suggeriert? Ich meine, der Riss verläuft nicht zwischen den Nationalstaaten, sondern geht durch sie hindurch. Ein keynesianistisches Ende der Sparpolitik in den südlichen Ländern wäre dann auch nicht nur eine rettende Zuwendung zu gemeinschaftlichen Interessen dieser Länder, sondern auch ein Bruch mit dem neoliberalen Projekt innerhalb der europäischen Gemeinschaft.

Dieses Buch bereichert die Diskussion um die aktuelle Krise wesentlich. Es erscheint zudem wie ein Kommentar zur Haushaltskrise in den USA, welche wiederum die politische Dimension der Schuldenobergrenze verdeutlicht. Auch die Debatte, die innerhalb der Linken in europäischen Ländern geführt wird - nämlich ob ein Euroaustritt linke Strategie sein kann oder nicht -, kommt an einer ernsten Analyse der Austeritätspolitik, wie sie Ingo Stützles bietet, nicht vorbei.

Ingo Stützle: Austerität als politisches Projekt. Von der monetären Integration Europas zur Eurokrise. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2013. 399 S., br., 36,90 €.

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