Jugend im Moloch Berlin

»Blutsbrüder« - Ernst Haffners Reportage-Roman aus dem Jahre 1932 ist jetzt neu erschienen

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 5 Min.

Berlin, Alexanderplatz. Wir befinden uns im proletarischen, armen Osten der Stadt, und zwar in derselben Zeit, von der auch Alfred Döblins 1929 erschienener berühmter Großstadtroman erzählt: »Männliche Prostitution steht in ganzen Rudeln vor den Bedürfnisanstalten, an den Haltestellen, vor den großen Lokalen. Obdachlose beider Geschlechter drücken sich herum.« Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise, Armut. »Menschen werden angepriesen und taxiert wie lahme Gäule auf dem Pferdemarkt.« Der Wert eines Menschen bemisst sich danach, wie viel Profit aus ihm herauszuschlagen ist, damals wie heute.

Über 50 000 erwerbslose Jugendliche und Heranwachsende, teils auch obdachlos, sollen sich Anfang der dreißiger Jahre im Moloch Berlin aufgehalten und von der Hand in den Mund gelebt haben, immer klamm, immer hungrig und in banger Erwartung dessen, was der nächste Morgen bringt.

Von diesem Milieu erzählt der erstmals 1932 erschienene Reportage-Roman »Jugend auf der Landstraße Berlin« von Ernst Haffner: Jugendlichen, die aus zerrütteten, überforderten Elternhäusern stammen, eine Erziehung vor allem in Form einer wiederkehrenden Abfolge von Schlägen genossen haben und irgendwann sich selbst überlassen worden sind. Die Eltern kennen selbst nur Gewalt als Mittel der Kommunikation, bereits an ihnen hat die Schwarze Pädagogik gründlich ihr Werk verrichtet: Die Väter enden als traumatisierte Kriegsheimkehrer, die Mütter als in den Fabriken vernutztes Arbeitsheer.

Versuche der Heranwachsenden, dem Elternhaus zu entkommen, enden früher oder später in der »Fürsorgeanstalt«, einer in wilhelminischem Geist geführten, zuchthausähnlichen Verwahrungseinrichtung, die beim Internierten den sofortigen Wunsch nach erneuter Flucht keimen lässt. Wodurch ein Kreislauf in Gang gesetzt wird, der nur mit Mühe wieder zu unterbrechen ist: Der Geflüchtete, der »für ein paar Scheiben Brot einen Menschen niederschlagen könnte, wenn er das Brot nicht gutwillig hergäbe«, sieht sich vor die Unmöglichkeit gestellt, legal seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Folgen sind: Kleinkriminalität, Gefängnis, Verwahrungsanstalt, erneute Flucht.

In Banden und Cliquen organisiert, nach den Prinzipien des Rudels, schlagen sich die in diesem Roman porträtierten 15- bis 20-Jährigen auf der Suche nach ein bisschen menschlicher Wärme, einem Zipfel Wurst und dem nächsten Tagelöhnerjob durch die schmutzige und heruntergekommene Stadt. Jonny, einer ihrer Anführer, wird im Zweifelsfall schon für sie sorgen und sich ums Frühstück kümmern: »Fünfundvierzig Schrippen in drei mächtigen Tüten und zwei ganze Zwiebelleberwürste. Das wird reichen für neun Mann.«

Am Abend dann vielleicht sogar eine warme Mahlzeit, ein paar große Biere und eine Lage Schnäpse in einer verqualmten Kaschemme, zwei, drei Stunden Freiheit und vermeintliches Glück, während man unbehelligt von Polizei und Staatsorganen als pubertierendes Jungmännerkollektiv in der Kneipenecke zusammenhockt. Dann ist das Geld auch schon wieder alle und ein Platz zum Nächtigen noch nicht gefunden. Eine »elende Wanzenmatratze« in einer vom Schimmel befallenen, kaltfeuchten Massenherberge schlägt mit 50 Pfennig pro Nacht zu Buche, was für die meisten der Herumtreiber nicht erschwinglich ist.

»Fast verlockend wirkt die massige Silhouette des Polizeipräsidiums. Dort gibt es Essen und Trinken und ein Bett. Aber erst dann, wenn der Verzweifelte seine Schaufensterscheibe demoliert hat.« Denn Ordnung muss ein: Armut ist kein Verbrechen, und nur wer ein Verbrechen begeht, hat Anrecht auf einen Aufenthalt im Gefängnis. Dort wiederum wird die Psychofolter fortgeführt: »Essen, Trinken, Schlafen, Verrichten der Notdurft und Weinen, vom lautlosen In-sich-hinein-Weinen bis zum hysterischen Geheul. Eine dankbare Sache das, den Häftling sich selbst zermürben lassen, indem man ihm die letzte Fliege, die den Häftling eventuell zerstreuen könnte, aus der Zelle wegfängt. Diese Selbstzerfleischung während der Untersuchungshaft erspart dem Untersuchungsrichter manches ermüdende Verhör. Der mürbe gewordene Eingesperrte gesteht alles und noch einiges mehr, nur, um endlich der modernen Folter der Untersuchungshaft zu entfliehen und vor Gericht gestellt zu werden.«

Haffners Roman, der über Jahrzehnte vergessen war und vor kurzem unter dem auf den Gegenwartsmarkt zugeschnittenen Titel »Blutsbrüder« wiederveröffentlicht wurde, schildert das Geschehen über weite Strecken, als habe der Verfasser ihm beigewohnt und sei selbst im Schlepptau der Jugendbanden durch die Hinterhöfe, Kellerverstecke, Wärmestuben und Wartehallen gezogen: »Überall Schmutz, Staub, Papierabfall. Zeichen jahrelanger Benutzung, Zeichen mühsam übertünchten Verfalls. Zwischen all dieser verzweifelten Trostlosigkeit, der auf 30 Grad erhitzten Unhygiene, genießend das Geschenk der Stadt Berlin an ihre elendesten Bürger: Hunderte von Burschen und Männern.«

In den episodenhaft aufgereihten Geschichten ist für und weitschweifige Erörterungen des Erzählers kein Raum. In seinem Bemühen um einen schmutzig-authentischen sozialen Realismus, der dem Leser möglichst plastisch und lebensprall den Alltag der verelendenden Jugendlichen vor Augen führen soll, beschränkt sich Haffner auf schnelles Hintereinanderwegerzählen, ordentlich Lokalkolorit und zuweilen dick aufgetragene, fleischige Milieuschilderungen: »Die Gewalt der verabfolgten Blechmusik schmettert den Schaum von den Mollen, und der in Massen fabrizierte Tabaksqualm hält die Papiergirlanden in ständigem Aufruhr.«

Der schnoddrige, sensationsheischende Erzählstil, in dem sich der Autor offenbar sehr gefällt, tarnt sich erkennbar nur als Sozialrealismus. Tatsächlich ist er von der gesuchten Drastik des Expressionismus, die in der Beschreibung von Farben, Gerüchen und Halbweltfiguren (»Rattenpaule«) und -spelunken (»Café Messerstich«) anklingt, ebenso beeinflusst wie vom reißerisch-pathetischen Stil der Groschenheft-, Kolportage- und Abenteuergeschichten seiner Zeit. »Jonny bewahrt auch im Schlaf den Ausdruck der Willensstärke, der Furchtlosigkeit«, heißt es da etwa, oder: »Das starke Kinn, die hervorstehenden Backenknochen wirken etwas brutal, zeugen wenigstens von Willenskraft.«

Von Ernst Haffner ist heute nichts weiter bekannt, als dass er von der zweiten Hälfte der 20er Jahre an bis zu Hitlers Machtübernahme als Journalist und Sozialarbeiter tätig gewesen sein soll. Von den Nationalsozialisten wurde sein Roman verboten, womöglich weil er genüsslich das genaue Gegenteil der faschistisch indoktrinierten, kerngesunden Kruppstahljugend abbildete, die den nationalsozialistischen Funktionären vorschwebte: eine sich ihrer Freiheitssehnsucht, dem Trunk und dem Triebleben hingebende, fröhlich verwahrlosende und im Elend lebende Arbeiterjugend, die an der autoritären Gesellschaft scheitert, die ihr Heil stets nur in der gewaltsamen Domestizierung und Abrichtung dieser Jugend sucht.

Von Siegfried Kracauer, zur Zeit des Erscheinens dieses Romans Kulturkorrespondent der »Frankfurter Zeitung«, gab es vor 80 Jahren Lob: Das Werk gebe »unbekannte Zustände naturgetreu wider« und führe den Leser »zwanglos durch das unterirdische Großstadtlabyrinth«.

Ernst Haffner: »Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman«. Metrolit-Verlag, 264 S., geb., 19,99 €.

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