Magenkrämpfe und fehlende Nervenenden

Auf ihrem Bundesparteitag will die SPD Lehren aus der Wahlniederlage ziehen / Kein Streit um Öffnung zur LINKEN

  • Hendrik Lasch, Leipzig
  • Lesedauer: 4 Min.
Sieben Wochen nach der Pleite bei der Bundestagswahl redet die SPD in Leipzig über Gründe - und rüstet sich für die Große Koalition.

Sigmar Gabriel ist kaum ans Rednerpult getreten beim Bundesparteitag der SPD, da liegt der Parteichef mit Ex-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück über Kreuz. Es geht um die Frage, wer die Verantwortung dafür trägt, dass die Partei bei der Bundestagswahl am 22. September eine herbe Niederlage erlitt. Nur 25,7 Prozent wählten die SPD - deren zweitniedrigstes Ergebnis und »mehr als enttäuschend«, sagt Steinbrück. Das Problem an diesem Tag in Leipzig: Jeder will es gewesen sein. Der Kandidat trage die Hauptverantwortung, sagt Steinbrück. Nein, das sei der Parteichef, erwidert Gabriel - und fügt an, Steinbrück sei »ein feiner Kerl«.

Großmut auch in der Niederlage, zugleich harte Analyse der Gründe - das ist der Tenor, den die SPD sieben Wochen nach der Wahl und mitten in den Koalitionsverhandlungen mit der Union in Leipzig setzen will. Es gebe »keinen Grund für Abrechnungen und ein Scherbengericht«, sagt Steinbrück und warnt vor internem Zwist. Die Mehrzahl der Genossen ist zufrieden mit dem Wahlprogramm, sie lobt den Wahlkampf - und hadert mit dem Ergebnis. Man sei »unter Wert geschlagen« worden, klagt Generalsekretärin Andrea Nahles und fügt ein trotziges »Nie wieder!« an.

Wie man das schaffen kann - das ist ein dominierendes Thema der Reden an diesem ersten der drei Leipziger Konferenztage. Die am nächsten liegende Frage ist dabei: Soll man angesichts der herben Klatsche in eine Koalition mit der Union einsteigen - und eine Wiederholung des Debakels von 2009 riskieren? Der Gedanke sorge, sagt Manuela Schwesig, die Sozialministerin aus Schwerin, »nicht nur für Bauchschmerzen, sondern für Magenkrämpfe«. Steinbrück sagt, die SPD fahre nicht gern nur »im Mannschaftsbus« und überlasse das Lenkrad anderen; sie sei freilich auch keine »Verhinderungskraft«.

So geht es vielen Genossen: Sie sehen sich in der Pflicht. Die Partei »will und muss gestalten«, sagt Burkhard Jung, Leipzigs SPD-Rathauschef. Man dürfe sich nicht aus Angst vor eigenen Schwierigkeiten davor drücken, andere, sprich: Menschen in schlechter sozialer Lage, in Schwierigkeiten zu belassen, ergänzt der Parteichef.

Gabriel mahnt indes auch, aus den Erfahrungen mit der Großen Koalition der vorletzten Wahlperiode zu lernen. An deren Ende sei der SPD vor allem angelastet worden, entgegen eigenen Ankündigungen und Prinzipien die Mehrwertsteuer erhöht und die Rente mit 67 durchgesetzt zu haben. Das dürfe sich nicht wiederholen, sagt Gabriel: Man dürfe »kein zweites Mal Politik gegen unser eigenes Selbstverständnis« betrieben.

Ob das in einer Koalition unter Angela Merkel als Kanzlerin gelingen kann? Angesichts dessen, was aus den Verhandlungsgruppen durchsickert, scheinen viele Genossen ihre Skepsis zu dämpfen. Es scheine möglich, Verbesserungen für diejenigen zu erreichen, »für die wir Politik machen«, erklärt Ralf Stegner, der Landeschef aus Schleswig-Holstein. Derlei Verbesserungen seien am besten zu erreichen, »wenn man regiert«, sagt Hannelore Kraft, Regierungschefin in Nordrhein-Westfalen. Man dürfe, sagt schließlich Thüringens Kultusminister Christoph Matschie, »nicht kneifen«. Formuliert werden etliche Bedingungen, ohne die eine Große Koalition nicht zu haben sei: Mindestlohn, doppelte Staatsbürgerschaft, die Rente nach 45 Arbeitsjahren. Zugleich stellt Gabriel, der das mögliche Regierungsbündnis als »befristete Koalition der nüchternen Vernunft« bezeichnet, schon klar: Wer im Koalitionsvertrag 100 Prozent SPD-Wahlprogramm erwarte, »der erwartet zu viel«.

Allerdings geht es der SPD in Leipzig längst nicht nur um die nächsten vier Jahre. Vielmehr provoziert die Wahlniederlage recht grundsätzliche Fragen - etwa die, ob die SPD überhaupt noch »auf der Höhe der Zeit« sei, wie Steinbrück sagt. Auf das Debakel gebe es, warnt Gabriel, keine einfachen Antworten, etwa die, wonach die Agenda 2010 der Partei noch immer als Klotz am Bein hänge. Die Probleme lägen tiefer, sagt der Parteichef und nennt als eines der grundsätzlichsten die wachsende »kulturelle Kluft« zwischen der Partei und ihren Repräsentanten auf der einen und ihren Wählern auf der anderen Seite. Gabriel illustriert das mit einer Anekdote: Nachdem seine Frau eine Zahnarztpraxis in Goslar übernommen hatte, habe eine Patientin gefragt, ob bei der Gattin des SPD-Chefs künftig nur noch »die Oberen« behandelt würden. Gabriel mahnt daher dringend, die SPD müsse wieder »mehr Nervenenden« für so genannte einfache Menschen ausprägen; das sei »Überlebensfrage« für die Partei. Diese solle sich künftig um die »soziale Mitte« kümmern, statt einer »politischen Mitte«, also der Mehrheitsmeinung, nachzulaufen.

Während Gabriel hofft, auf diese Weise die Prozentzahlen für die SPD zu verbessern, sucht die Partei zugleich neue Optionen, um Mehrheiten zu schmieden. Ihr Chef verteidigt die vorab viel diskutierte Öffnung zur LINKEN - indem er behauptet, es habe schon zuletzt keine »Ausschließeritis« gegeben, dafür aber inhaltliche Differenzen. Die SPD sei offen für Bündnisse mit anderen »undogmatischen Linken«; der Schlüssel für Koalitionen mit der LINKEN liege »nicht im Willy-Brandt-Haus, sondern im Karl-Liebknecht-Haus«. Hilde Mattheis, prominente Parteilinke, hält die Öffnung für »gut, notwendig und richtig«. Und Katrin Budde, Landeschefin in Sachsen-Anhalt, sagt, die LINKE sei zwar weder Schwesterpartei noch geborener Partner. Aber, konstatiert sie nüchtern, man brauche eine »Alternative zur CDU«.

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