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Der Bräutigam, der nur mal Frühstücksbrötchen holen wollte

Mit hohem Wiedererkennungswert: »Wahn« - der Neurologe Christof Kessler berichtet aus seiner klinischen Praxis

  • Gerd Prokot
  • Lesedauer: 3 Min.

Rostock-Lichtenhagen im August 1992. Rechtsradikale greifen mit Brandsätzen ein Ausländerwohnheim an, die Situation eskaliert, die Polizei vor Ort ersucht dringend um Verstärkung, die Anforderung landet bei einem aus dem Westen zugezogenen höheren Beamten im Schweriner Ministerium - der sie prompt vergisst. Seine Gedächtnislücken waren im riesigen Apparat bis zu dem Desaster niemandem aufgefallen. Bei einem klinischen Test wurde eine Demenz im Anfangsstadium diagnostiziert. Warum sich die Diagnose letztendlich als falsch erwies und »nur« berufliche Überforderung und eine tyrannische Ehefrau Ursachen der Ausfälle waren, schildert Professor Christof Kessler in seinem Buch »Wahn«.

Der Direktor der Klinik für Neurologie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald wird in seiner Praxis mit einer Vielzahl von organisch bedingten Erkrankungen des Gehirns konfrontiert, die tiefe Einschnitte in der Biografie der Betroffenen hinterlassen. Da ist der Mann, der sich als Opfer einer internationalen Mafia sieht. Er bricht zu einem Rachefeldzug auf, der ihn in den Wahn treibt. Eine Frau, selbst Internistin, erleidet einen Kollaps, deren Ursache in einem in der Biografie verankerten Konflikt zu suchen ist.

Weiter verbreitet als gemeinhin angenommen ist die angeborene Gesichtsblindheit. Beschrieben ist, wie sie einer Medienwissenschaftlerin bei einem Flirt zum Verhängnis wird.

Wie sich die Persönlichkeit durch einen Defekt des Gehirns dramatisch verändern kann, zeigt das Beispiel des »Grapschers«. Ein Mann rastet plötzlich aus, weil das für die Hemmung unseres triebhaften Verhaltens in sexueller und sozialer Hinsicht zuständige Frontalhirn infolge eines in dem Fall gutartigen Turmors geschädigt ist. Ohne diese Bremse würden wir uns nicht vom Tier unterscheiden, das ausschließlich instinktgesteuert ist.

Amüsant, allerdings weniger für die unmittelbar Betroffenen, ist die Geschichte von dem Bräutigam, der vor der Trauung aufbrach, um Frühstücksbrötchen zu kaufen, nicht wieder zurück findet und bei dem Versuch, seine Gedächtnislücken zu schließen, kriminell wird.

Für nicht wenige Leser dürfte aufschlussreich sein, dass auch Suchtverhalten häufig auf neurologische Ursachen zurückgeht, wie in dem Fall eines Kettenrauchers, der auch nach einem schweren Herzinfarkt und längeren Entzugstherapien nicht vom Glimmstängel lassen konnte - bis ein Schlaganfall das als Insula bezeichnete Hirnareal so schädigte, dass er im wahrsten Sinne des Wortes schlagartig mit dem Rauchen aufhörte. »Weisheit« der Natur?

Wie man sieht, sind die Grenzen zwischen organisch oder seelisch bedingten Erkrankungen oftmals fließend. So können Kopfschmerzen durch eine Entzündung der Hirnhäute entstehen, aber genau so gut als Folge starker seelischer Konfliktsituationen auftreten.

Es sind bestürzende, anrührende und zuweilen auch komische Geschichten, die auf Erfahrungen aufbauen.

Wenngleich fiktional, meint man doch, in der einen oder anderen Figur einen Verwandten, Bekannten oder Kollegen wiederzuerkennen. Oder sich selbst. Wie war verflixt nochmal der Name des Professors ...

Christof Kessler:
Wahn. Storys. Eichborn Verlag. 207 S., geb., 16,99 €

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