Verdrängt und doch präsent

Ein Haus in der Schönhauser Allee erzählt seine Geschichte - dank eines Künstlerpaars

  • Elke Koepping
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie ist vielfach beklagt und immer wieder Thema öffentlicher Diskurse zur Stadtentwicklung: die Gentrifizierung der Ostberliner In-Quartiere. »Es gibt keine alten Leute mehr im Prenzlauer Berg - ist Ihnen das aufgefallen? Die sind in die billigeren Vorstadtbezirke gezogen - oder gestorben. ... Wissense wat? Für mich bricht meine Heimat weg ...«

Der Satz bietet keine neue Erkenntnis in der Gentrifizierungsdebatte, aber er ist symptomatisch für die Hilflosigkeit jener, die vor den steigenden Mieten flüchten. Er steht in riesigen Lettern an der Brandmauer im Hof der Schönhauser Allee 52. Das Zitat legt den Verdrängungsschmerz offen und ist zugleich ein lebendes Zeugnis des Wandels im Haus selbst - nach dessen Sanierung. Trotz aller Offenheit des Vermieters ist kaum ein Altmieter übrig geblieben.

Im Eingangsbereich, wo die Briefkästen hängen, ist eine große Tafel angebracht. Fotos aus rund 100 Jahren Geschichte des Hauses werden hier durch Texte ergänzt, die das Leben an der Schönhauser und die Bevölkerungsstruktur erläutern und Auskunft geben über das Projekt, das das Künstlerpaar Julia Brodauf und Felix Müller am und im Haus realisiert hat - auf ausdrücklichen Wunsch und mit finanzieller Unterstützung ihres Vermieters.

Die beiden Künstler leben im ersten Stock des Vorderhauses mit ihrem zweijährigen Sohn. Von ihren Küchen- und Atelierfenstern aus blickt man direkt auf die Trasse der Hochbahn. Alle paar Minuten schaukelt ein »gelber Blitz« vorbei. »Die Schönhauser ist einfach eine magische Straße«, sagt Felix Müller, »von klein auf war die für mich der Inbegriff der Großstadt in diesem schrägen Ostberlin. Sie hat Charme, sie hat Bögen, sie windet sich. Die Hochbahn hat mich schon als Kind an New York erinnert.« Julia Brodauf fügt hinzu: »Die Nähe zur Hochbahn war für ihn der Grund, hier 1995 einzuziehen.«

Doch das Haus wird, wie viele andere auch, nach einigen Eigentümerwechseln zum Spekulationsobjekt. Mit allerlei Druckmitteln, unethischen Methoden und finanziellen Auszugsanreizen wird der Großteil der Mieterinnen und Mieter erst einmal vertrieben. »Dann ging es Schlag auf Schlag«, erzählt Julia Brodauf. 2011 erwartete das Paar ein Baby, und der neue Vermieter kam mit Bauplänen. Stück für Stück setzte sich Müller mit ihm über die Sanierungspläne auseinander, erklärte, machte ihn auf ungünstige Um-, An- und Einbauten aufmerksam, auf Einsparmöglichkeiten, schonendere Sanierungsverfahren.

Der bildende Künstler und Kunstprofessor an der Uni Greifswald war dem Hausbesitzer mit seiner direkten Art sympathisch. Aus den Gesprächen entstand die Vereinbarung, dass Müller die Fassaden- und Farbgestaltung des Hauses übernehmen sollte, und schließlich auch die Idee, ein künstlerisches Werk ins Haus einzubringen.

»Die Beschäftigung mit dem Bezirk und seiner Geschichte, mit der stattfindenden Veränderung, hatte uns schon eine Weile umgetrieben«, erinnert sich Julia Brodauf. »Bei mir als Altberliner gab es so das Gefühl, jetzt kommen die ganzen Leute aus dem Ausland hier nach Berlin und wissen nichts«, erzählt Felix Müller. »Die Geschichten aus dem Kiez sind verschwunden, zusammen mit den alten Leuten und der Szene. Also haben wir gedacht, dann muss das Haus die Storys erzählen.«

Daraus entstand die Idee zu einer »Collage im Raum«, wie sie die Arbeit nennen, die das künstlerische Werk auf 37 Wände im Treppenhaus verteilt. Die auf den Putz aufgebrachten Zitate, Versatzstücke aus Zeitzeugenerinnerungen, verbinden sich im Kopf der Betrachtenden zu einer eigenen Geschichte. Nachbarin Anja Junker gefällt das jedenfalls: »Ich finde es richtig gut, in einem Haus zu wohnen, das mir seine Geschichte erzählt.«

Julia Brodauf recherchierte die Vergangenheit des Hauses und der näheren Umgebung, konsultierte alte Adressbücher, Stadtpläne, Geschichtsbücher, suchte und fand Zeitzeugen. Sie führte zahlreiche lange Interviews mit Freunden, Bekannten und Bewohnern des Altersheims St.-Elisabeth-Stift an der Eberswalder Straße. »Im Mai 2012 fiel der Startschuss für das Wandbild an der Brandmauer«, sagt sie, fertiggestellt wurde die Gesamtarbeit im Frühjahr 2013.

Felix Müller und Julia Brodauf bedauern es, dass sie heute nur noch selten mit ihren überwiegend neuen Nachbarinnen und Nachbarn ins Gespräch kommen. Das ist der Punkt, an dem ihre künstlerische Arbeit ansetzt: Das Haus erzählt die Geschichte eines gentrifizierten Kiezes, der sein altes Gesicht verloren und noch kein neues gefunden hat.

Tag der offenen Tür im Haus Schönhauser Allee 52: 24.11., 12 bis 18 Uhr, sonst nach Anmeldung. Weitere Infos: www.lebenanderschoenhauser.de. Temporär wird das Projekt in die Ackerstraße erweitert: »Leben an der Ackerstraße«, 29.11.-1.12., Institut für alles Mögliche/Abteilung für alles Andere, Ackerstr. 18. www.i-a-m.tk

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