»Machtbesessen, aber nicht dumm«

Ruth Renée Reif im Gespräch mit Thomas Föhl

  • Lesedauer: 6 Min.
Thomas Föhl, geboren 1954 in Schorndorf, studierte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Klassische Archäologie und Kunstgeschichte in Berlin. Von 1993 bis 2001 war er stellvertretender Direktor der Kunstsammlungen zu Weimar. Seit 2003 befindet er sich in leitender Position im Bereich des Präsidenten der Klassik Stiftung Weimar.

nd: Herr Föhl, rund 1800 Seiten umfasst Ihre zweibändige Ausgabe des kommentierten Briefwechsels zwischen Harry Graf Kessler und Elisabeth Förster-Nietzsche, der Schwester Friedrich Nietzsches. Welche Wünsche verfolgen Sie mit dieser Edition?
Föhl: In Weimar sind das Nietzsche-Archiv und Elisabeth Förster-Nietzsche bis heute Tabu-Themen. Sie werden von der hiesigen Forschung kaum wahrgenommen. Das hat mich immer geärgert und das wollte ich ändern. Denn wir haben hier im Goethe-Schiller-Archiv die bedeutendsten Nietzsche-Nachlässe, seinen und den des Archivs, das seine Schwester aufgebaut hat. Die Publikation dieses Briefwechsels ist ein erster Schritt, dieses Tabu zu brechen.

»Gewiss wird es für alle Zeiten das Bild Ihres Bruders entscheidend beeinflussen, dass er eine solche Schwester hatte«, schrieb Graf Kessler in einem seiner Briefe. Das waren geradezu prophetische Worte. Wie konnte das von Förster-Nietzsche geschaffene Bild im Grunde bis zur Nietzsche-Ausgabe von Karl Schlechta 1959 Bestand haben?
So lange konnte sich dieses Bild nicht tradieren. Was Schlechta 1959 publizierte, war verdrängt und unterdrückt worden. Aber Nietzsches Schwester stand bereits Mitte der 1890er-Jahre im Fokus der Kritik. Sie wurde kritisiert als die Frau, die sich anmaßte, die Hinterlassenschaft ihres heroischen, aber auch genialen Bruders herauszugeben. Denken Sie nur an die langjährigen Streitigkeiten mit Fritz Koegel, dem Nietzsche-Herausgeber und einem der ersten Angestellten des Nietzsche-Archivs. Bereits er zeigte auf, wie Förster-Nietzsche die Wahrheit verdrehte, um sich in einem besseren Licht darzustellen. Oder denken Sie an ihre Streitigkeiten mit Rudolf Steiner oder mit dem Naumann-Verlag. Nietzsches Schwester war zu allen Zeiten belastet.

Als Friedrich Nietzsche 1889

... infolge seiner Syphilis-Erkrankung in geistige Umnachtung fiel, gründete seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche 1894 in Naumburg und ab 1896 in Weimar das Nietzsche-Archiv. In Gesamt- und Einzelausgaben veröffentlichte sie die Werke sowie den Nachlass ihres Bruders und schuf einen Kult um seine Person.

Ihre mitunter verfälschende Editionspraxis sowie ihre Nähe zu Adolf Hitler führten 1945 zur Schließung des Archivs. Mit den von Thomas Föhl herausgegebenen beiden Bänden »Von Beruf Kulturgenie und Schwester. Harry Graf Kessler und Elisabeth Förster-Nietzsche. Der Briefwechsel 1895-1935« (Weimarer Verlags- gesellschaft 2013) beginnt die Klassik Stiftung Weimar eine Schriften-Reihe zur Aufarbeitung der Geschichte des Archivs.

Nimmt das von ihr geschaffene Bild Nietzsches heute noch Einfluss auf die Rezeption seines Werkes?
Dieses Bild hat keinen Bestand mehr. Förster-Nietzsche hat es vor allem in ihrer dreibändigen Nietzsche-Biografie ausgebreitet. Und diese Biografie hat keinerlei Bedeutung mehr. Da wurde von der Forschung in den letzten Jahrzehnten doch vieles klar gestellt. Man denke nur an Förster-Nietzsches Vorgehen, ihr Verhältnis zu den beiden Nietzsche-Biografinnen Meta von Salis und Lou Andreas-Salomé in ihrem verschrobenen Sinne zu verklären.

Warum lässt sich ein gebildeter Mann wie Graf Kessler mit dieser dummen, geschwätzigen Frau ein und blendet politische Divergenzen lieber aus, als dass er mit ihr bricht?
Das hängt zum einen mit der Verehrung zusammen, die Graf Kessler seinem lebenslangen Helden Nietzsche entgegenbrachte. Er sah sich in seinem Europäertum und später auch in seinem Pazifismus immer im Gedankengebäude von Nietzsche. Diese Verehrung übertrug er auf die Schwester. Zum anderen spielte auch Sympathie eine Rolle. Er mochte sie gut leiden und trotz aller Kritik fand er Eigenschaften an ihr, die ihm Bewunderung abnötigten. Allerdings verblüfft es auch, wie er sich vorführen lässt. In seiner Unentschlossenheit, seiner Art, alles Mögliche anzufangen und dann liegen zu lassen oder zu verschieben und angesichts schon kleiner Widerstände zu resignieren, behandelt sie ihn streckenweise wie ein Kind. Bei alledem aber halte ich es für einen großen Fehler, Förster-Nietzsche als dumm hinzustellen. Sie war geschwätzig, dreist, unverfroren und machtbesessen, aber nicht dumm.

Offenbart der Briefwechsel etwas Neues über sie, das nicht schon durch frühere Darstellungen oder Biografien bekannt war?
Es kommen einige Aspekte, die man zuvor nicht kannte, in dem Briefwechsel heraus. Ich hatte auch ein Bild von Förster-Nietzsche im Kopf, nachdem ich die Biografien von Carol Diethe, David Marc Hoffmann und das »Trauerspiel« von Heinz Peters über sie gelesen hatte. Was mich dann aber beeindruckte, war, dass sie trotz aller Geschwätzigkeit, die man in dem Briefwechsel ständig spürt, eine relativ gebildete Frau war. Obwohl sie keine richtige Schulbildung erwerben konnte und nicht studieren durfte, besaß sie einen hohen Grad an Bildung. Sie wusste viel, beherrschte eine Reihe von Sprachen - neben Englisch, Französisch und Italienisch sogar Latein und Griechisch - und kannte sich aus in der Philosophie.

Muss Förster-Nietzsche neu bewertet werden?
Man sollte ihre Leistungen nicht gering schätzen. Ungeachtet der Kritik an ihrer Editionspraxis, hat sie doch Mengen an Werken ihres Bruders veröffentlicht. Nietzsches Nachlass wäre ohne ihre Aktivitäten in dieser Vollständigkeit nicht auf uns gekommen. Sie sah sich als Sachwalterin des Genies ihres Bruders, als Dienerin an seinem Werk und als Priesterin seiner Botschaft. Dabei darf man nicht außer Acht lassen, dass sie als Frau in einer Männerwelt stets angefeindet war. Wäre sie Nietzsches Bruder gewesen, sähe vieles anders aus. Was ich auch bemerkenswert finde, ist ihre Offenheit gegenüber der Moderne wie etwa ihre Verehrung von Edvard Munch und ihre Förderung von Künstlern, deren Werke sie kaufte. Hinzu kam ihr Einsatz für jüdische Freunde. Die Nationalsozialisten kamen in Weimar bereits 1930 an die Regierung und obwohl ihr verstorbener Ehemann Bernhard Förster ein aggressiver Antisemit war, engagierte sie sich für eine Reihe jüdischer Freunde.

Was ihr auch zugesprochen wird, ist die Schaffung des »Neuen Weimars«. Aber war das nicht eher das Verdienst des Grafen Kessler?
Die Idee stammte eindeutig von ihr. Das kommt in mehreren Briefen zum Ausdruck. Es war auch ihrer Mithilfe zu verdanken, dass Graf Kessler nach Weimar kam und erfolgreich sein konnte. Er war ja nur kurze Zeit dabei. Dagegen war das Nietzsche-Archiv auch nach seinem Weggang der Ort, an dem sich wichtige Persönlichkeiten in Weimar trafen. Es kamen weiterhin Gerhart Hauptmann, Richard Dehmel, Hugo von Hofmannsthal und André Gide. Bemerkenswerterweise war es auch ein Refugium, in dem sich gleichgeschlechtliche Paare mit Förster-Nietzsche trafen. Offiziell war das »Neue Weimar« 1906 tot und nicht mehr so wirkungsmächtig. Aber im Nietzsche-Archiv lebte die Idee zumindest bis zum Ende des Ersten Weltkrieges weiter.

Schon 1905 wurde in Basel ein »Gegenarchiv« eröffnet. Besteht zwischen den beiden Archiven ein wissenschaftlicher Austausch?
Das Basler Archiv entstand, weil Herausgeber wie Fritz Koegel gegen Förster-Nietzsche zu Felde zogen. Sie wollten sich nicht damit abfinden, dass sie als Schwester diesen genialen Philosophen dominierte. Durch den Nachlass von Freunden Nietzsches wie dem Theologen Franz Overbeck oder dem Verleger Gustav Naumann kam reichlich Material nach Basel. Ein Austausch zwischen Weimar und Basel findet allerdings heute kaum statt. Das liegt vor allem daran, dass sich in Weimar kein Wissenschaftler im Archiv konkret mit Nietzsche befasst. Keiner versucht, einen Dialog herzustellen zwischen den beiden Polen. Ich würde einen Dialog sehr begrüßen.

Wie es im Vorwort heißt, eröffnet dieser Briefwechsel eine neue Reihe, nämlich die Schriften zum Nietzsche-Archiv. Welche weiteren Schriften sind geplant?
Förster-Nietzsche hatte an die 4000 Briefpartner und wir haben im Archiv etwa 60 000 Briefe sowie ihre zahllosen Diktate. Darunter gibt es eine Reihe von Briefwechseln, die für eine Publikation interessant wären. Ich denke insbesondere an den Briefwechsel mit Peter Gast, also Heinrich Köselitz, dem langjährigen Schüler und Freund Nietzsches, der auch Nachlassverwalter war und lange Zeit Herausgeber des Nietzsche-Archivs. Ebenfalls von Interesse ist die von Adalbert Oehler, dem Cousin und Vormund Nietzsches, erstellte Chronik, die 1936 entstand und relativ objektiv ist. Sie spiegelt auch die Geschichte des Nietzsche-Archivs, seines Gebäudes und seiner Editionspraxis wider. Das Archiv wurde 1945 geschlossen. Nahezu siebzig Jahre später können wir uns mit einem anderen Blick noch einmal seiner Geschichte zuwenden.

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