Wir sind das Volk(stheater)

»Was darf Kunst kosten?« – Diskussion über die Not der Stadttheater in der Berliner Volksbühne

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.

In dem von manchem Kritiker harsch gescholtenen, vom Publikum aber heiß geliebten Kinofilm »Fack ju Göhte« gibt es eine Szene, in der der alte Theaterlehrer empört den Probenraum verlässt. Kurz zuvor hatte sein neuer Kollege, der eigentlich gar kein Lehrer, sondern ein gerade aus der Haft entlassener Scharlatan ist, mit ein paar simplen dramaturgischen Vorschlägen die vom Theaterspiel gelangweilte Schülerschaft aus ihrer Lethargie gerissen. Shakespeare in der Sprache der Jugend von heute? Der alte Kollege kann es nicht fassen. Beleidigt verlässt er die Szene: 23 Jahre lang habe er diesen Kurs geleitet, immer in derselben klassischen Weise, und immer, ähem, mit Erfolg! - Der einzige Erfolg aber, den man ihm tatsächlich zusprechen kann, ist, dass überhaupt noch ein paar Schüler in den Kurs gekommen sind. Der frische Wind tut offensichtlich not.

Nicht zuerst um künstlerische, sondern um existenzbedrohende finanzielle Einschnitte in der deutschen Stadttheaterlandschaft ging es am Donnerstagabend bei einem emotional ausgefochtenen Podiumsgespräch in der Berliner Volksbühne. Die Online-Theaterplattform nachtkritik.de hatte in den »3. Stock« geladen, einen wie aus dem Nichts ins Mauerwerk geschlagenen, grau-kargen Nebenraum des Hauses, um über die katastrophale Situation des Rostocker Volkstheaters zu diskutieren. Schon die Sitzordnung des Podiums hatte die Anmutung eines Boxrings: links ein Tisch, an dem sich Rolf Bolwein, der geschäftsführende Direktor des Deutschen Bühnenvereins (DBV), und DT-Intendant Ulrich Khuon, Vorsitzender der DBV-Intendantengruppe, in Stellung brachten. Rechts nahmen Stefan Rosinski, kaufmännischer Geschäftsführer, und Sewan Latchinian, designierter Intendant des Rostocker Theaters, Platz. Die Position des Ringrichters füllte, an einem Einzeltisch in der Mitte, der Theaterkritiker Dirk Pilz aus.

Hintergrund gerade dieser Konstellation ist ein Konflikt zwischen dem DBV (der Arbeitgeberorganisation der deutschen Theater) und den Rostocker Bühnen, die sich akut in ihrer Existenz bedroht sehen. Aus Protest gegen den DBV-Tarifabschluss für die Orchestermusiker hatte das Volkstheater im Dezember 2013 den Bühnenverein verlassen. Im Januar 2014 trat Sewan Latchinian zudem als stellvertretender Vorsitzender der DBV-Intendantengruppe zurück. Würden wir die vereinbarte Tariferhöhung von 500 000 Euro jährlich an unsere Orchestermusiker zahlen, sagt er, dann bliebe für die künstlerische Arbeit »kein einziger Cent«. Es sei denn, man würde betriebsbedingte Kündigungen aussprechen. - Die einen rausschmeißen, um den anderen mehr Gehalt zahlen zu können? Das, so Latchinian, »hätten wir mit unserem Gewissen nicht vereinbaren können«. Wie könne man denn auf der Bühne »an das Gute, Wahre und Schöne appellieren«, wenn hinter den Kulissen solch »neoliberaler Kannibalismus« obwalte? Die gemeinsam mit seinem Vorgänger Peter Leonard und mit Rosinski getroffene Entscheidung, aus dem DBV auszusteigen, sei die letzte Möglichkeit, einen eigenen Weg zu finden.

Bolwein widerspricht. Es gebe für Theater in Notsituationen durchaus Möglichkeiten, Flächentarife zu umgehen. In Rostock sei ein Haustarifvertrag aber am Widerstand der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di gescheitert, die strikt auf höhere Löhne für die Mitarbeiter im nicht-künstlerischen Bereich beharrt habe. Außerdem sei Latchininans Argument nicht zu verallgemeinern: An anderen Häusern sei es normal, dass die ausgehandelten Zuschüsse der öffentlichen Hand für die Gehälter aufgewendet werden, der künstlerische Etat aber durch Eintrittsgelder von den Theatern selbst erwirtschaftet werden müsse.

»Was darf die Kunst kosten? Und wie viel sollen Künstler verdienen?« - der normative Veranstaltungstitel verfehlte die Problematik haarscharf. Die eigentliche Frage lautet: »WER lässt sich WELCHE Kunst WAS kosten?«. Denn was nutzen Tarifverträge, wenn die Träger des Theaters - in Rostock sind das je zur Hälfte das Land und die Kommune - die Subventionen seit vielen Jahren eingefroren haben? Wenn gleichzeitig ein eklatantes Gehaltsgefälle zwischen lobbystarken Orchestermusikern und den deutlich schlechter gestellten Schauspielern und Tänzern besteht? Wenn zudem die Tendenz zum projektbezogenen Engagement freiberuflicher Gastkünstler immer stärker wird, die überhaupt nicht tariflich bezahlt werden müssen?

Die Sparpotenziale des Rostocker Theaters - will man Kündigungen vermeiden, die Abschaffung einzelner Sparten ausschließen und künstlerisches Niveau behaupten - sind längst ausgeschöpft. Dass aber auch »die Politik« nicht ohne Weiteres an den Banausen-Pranger gestellt werden kann, wird spätestens dann plausibel, wenn man bedenkt, wie rüde die klientelpolitischen Verteilungskämpfe in einem Land geführt werden, in dem die »Schuldenbremse« Verfassungsrang hat. »Bei uns wird alles in Frage gestellt«, wirft Eva-Maria Kröger, Vorsitzende der Linksfraktion in der Rostocker Bürgerschaft, aus dem Publikum ein. Wo es an allen Ecken und Enden fehlt, gerate der »freiwillige Bereich« Kultur in einen zermürbenden Rechtfertigungszwang. Bei diesen Kämpfen habe sie die Unterstützung des Deutschen Bühnenvereins vermisst. Bolwein widerspricht.

Immer wieder sieht man Sewan Latchinian sein Gesicht in die Handflächen graben. Und immer wieder hebt er sein Haupt, um einem Weg Bahn zu brechen, der nicht allen Gewerkschaftern schmecken dürfte, hier aber als aufrechter Anlauf zum Befreiungsschlag wirkt. Endlich wieder über Kunst zu reden, nicht pausenlos über Tarife, Sozialpläne und drohenden Kollaps, dazu bedürfe es in Rostock eines Moratoriums. Würde man ihm als neuem Intendanten »zwei, drei Jahre« geben, in denen der Streit ums Geld auf Eis gelegt wird, dann würde es ihm schon gelingen, gemeinschaftlichen Enthusiasmus, gegenseitige Solidarität und die Begeisterung des Publikums zurück ins Haus zu bringen. Latchinians Motto: »Wir sind ein Volk(stheater)«!

Bezogen auf die Neue Bühne Senftenberg, die er in seiner zehnjährigen Intendanz zu einem der künstlerisch aufregendsten und überdies gut frequentierten Stadttheater des Landes aufgebaut hat, sprach Latchinian einmal von einer »Mentalität der hohen Identifikation und der Selbstausbeutung« als Rezept zum Erfolg. Solange es dem DBV nicht gelinge, die Länder und Kommunen bei Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst dazu zu verpflichten, die Theater mitzufinanzieren, sehe er keinen anderen Weg als den in Kauf genommenen Verzicht, der ja auch ein Gewinn sei. Dann müssen Schauspieler eben - vorübergehend - weniger verdienen als Müllfahrer. Immerhin sei mit der Entscheidung, als Künstler zu leben, auch das Bekenntnis zur Subversion verbunden.

Aufbegehren - um den Preis der Abkehr vom Anspruchsdenken. Die Vertreter des Deutschen Bühnenvereins dürften das nicht gern gehört haben. Man hat doch seit Jahrzehnten auf bewährte Weise im Sinne der Theater verhandelt. Und immer, ähem, mit Erfolg.

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