Nikolai Ryschkow stellt die Frage »Was wäre wenn?«

Der ehemalige Ministerpräsident der UdSSR schildert seine Sicht auf die Perestroika und deren Verkünder

  • Detlef D. Pries
  • Lesedauer: 5 Min.

Den einen gilt er als Lichtgestalt, anderen als Zerstörer. Gerade wegen der höchst widersprüchlichen Urteile über den einstigen KPdSU-Generalsekretär und einzigen Präsidenten der untergegangenen Großmacht Sowjetunion macht sich der Name Gorbatschow auf dem Umschlag gut. Meinte offenbar der Verlag und gab dem Buch Nikolai Ryschkows den Titel »Mein Chef Gorbatschow«. Das könnte sowohl die Verehrer als auch die Verächter des »Titelhelden« zum Kauf anregen. Und schließlich gehörte der Autor, Nikolai Iwanowitsch Ryschkow, als Ministerpräsident der UdSSR und Mitglied des Politbüros der KPdSU zum engen Führungskreis um Gorbatschow. Dass er ihn »mein Chef« genannt hat, ist dennoch zu bezweifeln. Ryschkow selbst jedenfalls gab der russischen Originalausgabe seines »traurigen Erinnerungsbuches«, wie er es nennt, den weitergreifenden Titel »Der Kronzeuge. In Sachen Zerfall der UdSSR«.

Geboren im ukrainischen Donbass, war Ryschkow im Swerdlowsker Schwermaschinenbaukombinat »Uralmasch« vom Mechaniker bis zum Generaldirektor aufgestiegen, bevor er Vizeminister, stellvertretender Chefplaner und schließlich Wirtschaftssekretär des Zentralkomitees wurde. In dieser Eigenschaft beauftragte ihn der damalige KPdSU-Generalsekretär Juri Andropow 1983, gemeinsam mit dem Politbüromitglied Gorbatschow und dem Politbürokandidaten Wladimir Dolgich eine Analyse der Wirtschaftslage und Vorschläge zur Reformierung zu erarbeiten.

Diese Vorschläge, so Ryschkow, lagen dem Referat Gorbatschows im April 1985 zugrunde, dem Startschuss zur Perestroika. Folglich gehörte er selbst zu den Architekten der Reformen, denn er verstand sehr wohl, dass das existierende Wirtschaftsmodell ausgedient hatte, dass eine Veränderung nicht nur der Wirtschaft, sondern der ganzen Gesellschaft unvermeidlich war und schon Jahrzehnte zuvor hätte beginnen müssen.

Der Schriftsteller Valentin Rasputin, der das Vorwort zu dem Buch schrieb, bescheinigt dem Autor, er sei kein Verteidiger der alten Ordnung und des Systems gewesen, »das seine verschlissenen Schwungräder nur noch mit Mühe in Bewegung hielt«. Dennoch wurde Ryschkow von den »liberalen« Reformern bald als Bremser verschrien, weil er deren »500-Tage-Programm« für verhängnisvoll hielt und für einen schmerzärmeren Übergang zur Marktwirtschaft im Laufe von sechs bis acht Jahren plädierte. Dabei sollten 50 bis 60 Prozent des Eigentums in Staatshand bleiben.

Wie der Versuch einer Reformierung gar zu schnell zur Zerstörung des Systems und schließlich zur Agonie des Staates führte, beschreibt und analysiert Ryschkow detailliert. Sich selber sieht er in der Rolle des ständigen Warners, der wieder und wieder - in ausführlich zitierten Reden, Interviews und Gesprächen im engeren Kreis - zur Vernunft aufrief und doch auf taube Ohren stieß, bis er zur Jahreswende 1990/91 als Regierungschef resignierte. Da wähnte er sich schon von Feinden umgeben.

Ryschkow lässt die äußeren Faktoren des Zerfalls der UdSSR nicht außer Acht, konzentriert sich aber auf die inneren, denn für ihn ist eines klar: »Der Hauptimpuls zur Zerstörung der UdSSR kam aus dem Zentrum, aus Moskau.« Und also kommt die Rede tatsächlich immer wieder auf seinen »Chef«, auf Gorbatschow. Kaum einen Vorwurf erspart der Autor dem ehemaligen Genossen: Zynismus, Prinzipienlosigkeit, Käuflichkeit, Untergrabung der Autorität der Sowjetarmee, politische Hilflosigkeit, Inkonsequenz, fehlende strategische Linie, hastiges Agieren, kaum durchdachte Improvisationen, hohle Versprechungen, öffentliche Lügen und eine »spezifische Taubheit«: Gorbatschow habe nicht hören wollen, was ihm nicht gefiel. Die Reihe ließe sich fortsetzen.

Schlimmere Urteile treffen nur Boris Jelzin, und auch dessen Aufstieg habe Gorbatschow durch »stümperhaftes Vorgehen« gefördert. Ryschkow, der den »vaterländischen Robin Hood« bereits aus Swerdlowsk kannte, hatte davor gewarnt, Jelzin zum Ersten Sekretär des Moskauer Stadtparteikomitees zu machen. Das wenigstens habe Gorbatschow zugegeben, als Jelzin zu seinem Intimfeind geworden war.

Unter aktuellem Aspekt verdient eine Passage des Buches besonderes Interesse: Ryschkow schreibt darin über das Treffen der Führer Russlands, der Ukraine und Belorusslands im Belowescher Wald im Dezember 1991, den »Staatsstreich«, der den Zerfall der Sowjetunion besiegelte. Lebenswichtige Fragen seien damals unbeantwortet geblieben. Zum Beispiel die nach den Rechten russischer Bewohner in den ehemaligen Unionsrepubliken. »Die Frage der Krim konnte nur einem Betrunkenen oder im Kopf nicht ganz Klaren aus dem Blickfeld geraten«, klagt der Autor mit eindeutigem Hinweis auf Jelzin und zitiert den Ukrainer Leonid Krawtschuk, der acht Jahre später eine Auszeichnung dafür erhielt, dass er seinerzeit »die Krim für die Ukraine gesichert« hatte. Das sei ganz einfach gewesen, habe Krawtschuk zugegeben, denn »Jelzin hasste Gorbatschow zu sehr und wäre, um ihn loszuwerden, bereit gewesen, halb Russland abzugeben, nicht nur die Krim«. Angeblich war die ukrainische Delegation auf Rückgabeforderungen gefasst und bereit, ihnen zuzustimmen. »Dazu, wie akut dieses Problem für Russland und für die Mehrheit der Krimbewohner bis heute und in Zukunft ist, muss man kaum etwas sagen«.

Für Ryschkow ist der Zerfall der Sowjetunion jedenfalls eine ungeheure Tragödie. Darin ist er sich mit Russlands heutigem Präsidenten Wladimir Putin offenbar einig. Ob die Perestroika solche fatalen Folgen gehabt hätte, wenn an der Spitze der Partei nicht Gorbatschow gestanden hätte, wenn Jelzin im Ural geblieben wäre? Was wäre, wenn? Eine Frage für die Ewigkeit, die auch Nikolai Ryschkow, inzwischen 84-jährig, nicht beantworten kann.

Nikolai Ryschkow: Mein Chef Gorbatschow. Die wahre Geschichte eines Untergangs. Verlag Das Neue Berlin. 288 S., br., 17,50 €.

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