Lebenserwartung 50 Jahre

Französische Organisation veranstaltet Gedenkfeier für verstorbene Obdachlose

  • Andrea Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.
In Frankreich sind im vergangenen Jahr mindestens 453 Obdachlose aufgrund von Krankheiten, Unfällen oder Sucht gestorben. Eine Organisation will verhindern, dass sie in Vergessenheit geraten.

»Didier, 46 Jahre, ist am 21. Juli in Sète gestorben«, »eine sehr junge Frau wurde am 2. Februar in einem besetzten Haus in Avignon tot aufgefunden« ... Das Kollektiv »Les Morts de la Rue« (»Die Toten der Straße«) hat im vergangenen Jahr den Tod von 453 Obdachlosen erfasst - im Durchschnitt wurden sie nur 50 Jahre alt. Von vielen Verstorbenen sind Vor- und Nachname bekannt, von anderen ein Beiname. Von manchen weiß man nur, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Die Sterbefälle und genauere Informationen werden dem Kollektiv durch Privatpersonen, Hilfsverbände, Krankenhäuser oder die Polizei gemeldet. »Les Morts de la Rue« organisiert heute in Paris eine Gedenkfeier für die Verstorbenen, während der auch die unweigerlich unvollständige Liste vorgelesen wird. Auf diese Weise macht das Kollektiv bereits seit einigen Jahren auf die Situation der Obdachlosen in Frankreich aufmerksam.

Nach einer im Jahr 2013 veröffentlichten Untersuchung des Statistikamts INSEE* ist die Anzahl der Menschen ohne festen Wohnsitz in Frankreich in den letzten Jahren um 50 Prozent gestiegen: Etwa 141 500 Menschen hatten 2012 keinen festen Wohnsitz, davon 30 000 Kinder. Nach Angaben des INSEE ist der Frauenanteil unter den Obdachlosen stark gestiegen: Bereits fast 40 Prozent der Betroffenen sind weiblich. Der starke Anstieg der Zahlen insgesamt ist auf den wachsenden Anteil wohnungsloser Migranten zurückzuführen - er hat sich seit 2001 verdoppelt. Sie machen heute mehr als ein Drittel der Obdachlosen aus. Hinzu kommen 22 500 Menschen in Asylbewerberheimen, die in der Untersuchung nicht erfasst wurden. Französische Männer stellen ein Drittel der Obdachlosen.

Nach Angaben des INSEE schliefen 2012 nur neun Prozent der Obdachlosen - rund 12 000 Menschen - auch tatsächlich auf der Straße. Davon waren 92 Prozent Männer. Frauen und vor allem Mütter wurden im Rahmen der Möglichkeiten in Pensionen untergebracht. Ein Drittel der Obdachlosen lebte in prekären Wohnverhältnissen, ein Drittel in Tagesstätten oder Notunterkünften, die jedoch hoffnungslos überlaufen sind.

Derzeit fehlten etwa 70 000 Plätze, »insbesondere für alleinstehende Frauen«, erklärt Eric Pliez, Leiter der Pariser Obdachlosenhilfe Samu Social. Seit 20 Jahren wird das Problem jedoch nur notbehandelt - langfristige Lösungen bleiben aus. Zusätzliche Plätze werden nur im Winter und bei sehr niedriger Außentemperatur geöffnet. Dies ist umso absurder, als der Bedarf in allen Jahreszeiten gleich groß ist.

Der Mythos des im Winter erfrorenen Obdachlosen entspricht nicht der Realität. »Nicht die Kälte tötet, sondern die Straße«, bestätigt Chris-tophe Louis, Leiter des Kollektivs »Les Morts de la Rue«. Neben Unfällen, Streitigkeiten und Selbstmorden sind es vor allem Krankheiten, die den Tod bringen: allen voran die Folgen von Drogen- und Alkoholsucht, Krebs, Herz- und Gefäßkrankheiten sowie Infektionen der Atemwege - und dies in »zur Restbevölkerung vergleichbarer Größenordnung, jedoch schon in sehr viel jüngerem Alter«, erklärt die Epidemiologin Lise Grout.

Denn Obdachlose suchen meist erst einen Arzt auf, wenn die Krankheit bereits in einem fortgeschrittenen Stadium und nur noch schwer zu behandeln ist. Dazu tragen auch horrende Arzthonorare sowie die Weigerung mancher Ärzte bei, diesen Teil der Bevölkerung zu behandeln. So ist die durchschnittliche Lebenserwartung für obdachlose Männer in Frankreich auf 56 Jahre gesunken (gegen 77 Jahre in der Gesamtbevölkerung), für Frauen gar auf nur 41 Jahre (gegen 84 Jahre).

*Aus methodischen Gründen unterschätzt die Untersuchung des INSEE die tatsächlichen Zahlen, denn sie erfasst nur jene Personen, die in einem begrenzten Zeitraum Notunterkünfte und Suppenküchen aufgesucht hatten. Hinzu kommen mehrere tausend Obdachlose, die beispielsweise von Bekannten beherbergt wurden, oder in Krankenhäusern, Gefängnissen oder besetzten Häusern übernachtet hatten.

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