Lustmolch und Lästerzungen: Luxuria 2.0

  • Sarah Liebigt
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Frau, die im Internet verschämt oder möchtegernprovokativ die Auszüge aus den »Shades of Grey« von E.L. James liest. Rund 5,7 Millionen mal verkaufte sich in Deutschland dieser buchgewordene Fanfiction-Albtraum.

Der Durchschnittsmann, der in der Mittagspause seines Durchschnittsjobs online schnell ein paar Pornofilmchen konsumiert, die ihn von der Fadheit seines Durchschnittsalltags ablenken sollen. Die aber ebenso durchschnittlich sind wie sein Auto und sein Feierabendbier. 70 Prozent der pornografischen Daten werden an Werktagen zwischen 9 und 17 Uhr abgerufen.

Leiden nach dem Höhepunkt

Die sinnliche, sexuelle Begierde, die den Körper einnimmt und beherrscht wie ein Orkan, der die Vernunft hinwegfegt, ist nicht immer mit überwältigenden Emotionen verbunden. Es gibt Menschen, die unter ihrem täglichen Verlangen nach dem Orgasmus, der höchsten Ekstase, die der Körper erreichen kann, schrecklich leiden. Über zwanghafte Hypersexualität sprach Christin Odoj mit dem Kieler Sexualmediziner und Psychotherapeuten Hartmut Bosinski (57).

Und schließlich die Jugendlichen, die sich auf der Suche nach Input, nach Infos, nach Spaß, nach geilen Bildern Filmchen angucken sowie zahllose Bildstrecken von Frauen mit aufgepumpten Brüsten und/oder Männern mit Sixpack und Riesenschwanz. »Sex« und »Porn« sind unter den Top-5-Suchbegriffen bei Jugendlichen unter 18 Jahren.

Ein Drittel des globalen Datenverkehrs im Internet ist pornografischen Ursprungs. Schätzungen zufolge bieten fast 400 Millionen Webseiten pornografische Inhalte, täglich kommen weltweit bis zu 300 Seiten hinzu. Wir gucken Sex, wir lesen Sex, wir kaufen Sex. Doch weder die Shades-of-Gray-Freundin, noch der Durchschnittsmann, noch die Jugendlichen würden im Zuge dieses Konsums davon reden, Wollust zu empfinden oder dieser zu frönen. Dabei ist sie gleichermaßen Antrieb und Ziel.

Die Internetseite Pornhub hat 23 Millionen Besucher pro Tag, die im Durchschnitt acht Minuten auf der Seite bleiben und währenddessen ebenso viele Filmchen angucken. Abgelenkt werden die Menschen nur von Großereignissen. Wie dem Euro Vision Song Contest. In Malta sackte 2013 der Traffic am ESC-Abend um 15 Prozent ein. An Thanksgiving dokumentierte Pornhub in den USA 30 Prozent weniger Verkehr. In Kanada forderte ein Hockeyspiel die geballte Aufmerksamkeit der Bevölkerung ein: 50 Prozent weniger Traffic im Mai 2013 während der NHL Eastern Semifinals.

Doch neben den vermeintlich nicht jugendfreien Sümpfen der virtuellen Fleischeslust gibt es einen anderen Bereich. Soziale Netzwerke, Blogs und Foren bieten im Internet einen Raum, in dem Mensch mit Lust, mit Wollust eben, die verschiedensten Laster ausleben kann. Mit sexuellen Trieben hat das nicht notwendigerweise zu tun. Mit Begeisterung befriedigen die Menschen hier ihre Gier nach Klatsch und Tratsch. Nach den letzten Paparazzi-Aufnahmen der Royals, der blaublütigen wie popkulturellen. Oder ergießen sich in den endlosen Kommentarspalten des World Wide Web. Oder feiern und schüren versteckt hinterm virtuellen Gartenzaun ihren Hass auf Schwule, auf Frauen, auf politisierte nackte Brüste, auf Falschparker und Kampfradler.

Luxuria ist die Begierde nach und die Lust an sexuellen Reizen. Luxuria 2.0 ist der digitale Marktplatz der Lästermäuler und das dunkle, virtuelle Hinterzimmer der Bildergeilen. Hier gibt es Klatsch und Tratsch en masse, anonym und mit Leichtigkeit lässt es sich der sexuellen Reizerfüllung frönen. So ein Mausklick ist nicht anstrengend, man muss nicht mal vor die Tür gehen dafür.

Die Wollust lässt uns unseren Verstand und unsere Vernunft vergessen. Dass sie den ewigen Streit zwischen Trieb und Intellekt gewinnt, war und bleibt Grundlage für andere Verfehlungen (Todsünden) wie Faulheit, Gier, Neid und Wut.

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