Der Brief von Waleri Gergijew im Wortlaut

  • Lesedauer: 4 Min.

die Ereignisse in und rund um die Ukraine beherrschen in diesen Wochen die Schlagzeilen und erneut werden Gräben zwischen Ost und West aufgerissen, die uns alle bestürzen. Auch meine Person wurde dabei zum Gegenstand von Vorwürfen und kontroversen Auseinandersetzungen. Deshalb möchte ich mich heute mit einer persönlichen Stellungnahme in Form dieses Briefes an Sie wenden.

Dass ich von der Stadt München berufen worden bin, ab der Saison 2015/16 die Münchner Philharmoniker als Chefdirigent zu leiten, erfüllt mich mit größtem Stolz. Doch bedeutet diese Berufung für mich noch mehr. Sie beruht nämlich in meinen Augen auf Vertrauen und auf der Zuversicht, dass es gemeinsam gelingen kann, dieser Stadt ihre einzigartige Musikkultur zu erhalten und diese auch der Zukunft zu öffnen. Der Größe und Verantwortung, die in dieser Aufgabe liegt, bin ich mir durchaus bewusst. Mein künftiges Orchester und ich werden alles tun, Ihnen mit unseren Konzerten unvergessliche Erlebnisse zu schenken.

Ich bin Musiker und Dirigent. Ich bin aber auch Russe und meinem Heimatland eng verbunden. Seit nahezu einem Vierteljahrhundert leite ich die Geschicke eines der angesehensten Opernhäuser der Welt, die Mariinsky-Oper in St. Petersburg. Mein musikalisches Tätigkeitsfeld ist darauf nicht begrenzt. Ich dirigiere seit Jahren in den bedeutendsten Musikmetropolen der Welt und musiziere mit vielen Orchestern und Musikerkollegen zusammen. Mein Metier und meine Leidenschaft ist die Musik, und ihr habe ich mich von früh an mit ganzer Seele verschrieben. Ich habe dabei aber auch Verantwortung übernommen, um die kulturelle, musikalische Tradition von St. Petersburg am Blühen zu erhalten.

Daraus können im Falle politischer Entwicklungen Probleme entstehen, wie wir sie jetzt haben, und in die mich einige verwickelt sehen. Ich gelte in manchen Ländern als Vertreter einer »anderen« Gesellschaft, die nicht entschieden genug für die Werte und Lebensgrundsätze des Westens stehe und dafür einträte. Doch ist das richtig? - Gerade unsere russische musikalische Kultur ist seit Michail Glinka europäisch und da vor allem von der deutschen Musikkultur beeinflusst und geprägt. Das ist vielen Menschen in meiner Heimat Russland sehr bewusst.

Doch ich kann andererseits auch nicht außer Acht lassen, dass die russische Gesellschaft teilweise nach anderen fundamentalen Prinzipien lebt, als das in den westlichen Gesellschaften der Fall ist. So spielt die kulturelle - tief in der orthodoxen Religion verwurzelte - Orientierung für die russischen Menschen eine nach wie vor elementare Rolle in der Lebensführung, was im übrigen auch geholfen hat, dass die Menschen in Russland schwierige Situationen im 20. Jahrhundert überleben konnten.

Ich achte mein Volk und seine Traditionen. Ich achte und respektiere auch das, was als Lebensmaxime in Russland den Menschen von hohem Wert ist. Dazu gehört auch das Festhalten an Tabus, die in den westlichen Ländern seit einigen Jahren nicht mehr gelten, aber zu deren Aufhebung es viele Anläufe und viel Zeit brauchte. Was meine persönliche Haltung angeht, so wird es niemanden geben in meinem Ensemble und Team, der mir etwas vorwerfen könnte. Der Respekt dem anderen und seinen Belangen gegenüber ist für mich ein oberstes Prinzip.

Ich weiß natürlich, dass meine Arbeit, meine Initiativen und mein Engagement, wo sie auf die Prägung von Lebenswirklichkeit mit Musik hinauslaufen, ein hohes Maß an Verantwortung gegenüber meinen Mitmenschen fordern und deshalb immer auch politisch sind. Aber ich bleibe bei der Musik, weil ich an deren gesellschaftsbildende Kraft und an den hohen Wert ihrer Tradition glaube. Deshalb liegt mir auch so viel an der Förderung und Vitalisierung von musikalischen Erziehungs- und Bildungsprogrammen.

In diesen Bemühungen weiß ich mich mit vielen Kollegen in der ganzen Welt verbunden. Doch das kann und soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass realpolitische Probleme plötzlich in die Gemeinsamkeit unserer kulturellen Arbeit harte und schrille Dissonanzen hineinschicken. Doch gerade dann ist aus meiner Sicht entscheidend, dass wir den Mut behalten, der jeweils anderen Seite zuzuhören und uns wechselseitig auszutauschen. Dass wir dabei nicht den Respekt voreinander verlieren. Der Dialog darf nicht abreißen, niemals! Der Austausch der Gedanken muss möglich bleiben.

Auch wenn es abgegriffen klingt, aber es ist deshalb nicht falsch, ganz im Gegenteil: Musik ist der beste Brückenbauer!

Ich freue mich auf viele gemeinsame Konzerte mit Ihnen - vielleicht schon im Juli, wenn der Strawinsky-Zyklus der Münchner Philharmoniker und des Mariinsky-Orchesters zu seinem Abschluss gelangt.

Sehr herzlich, Ihr Waleri Gergijew

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