Erdogan bringt die Alewiten gegen sich auf

Türkischer Ministerpräsident sieht sich in Istanbul und Köln Protesten ausgesetzt

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 4 Min.
Auch ein Jahr nach den Gezi-Unruhen scheint die Türkei nicht zur Ruhe zu kommen. Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizei in Istanbul haben zwei Todesopfer gefordert.

Die Stimmung unter den Alewiten ist aufgeheizt: Am Donnerstag starb ein Besucher einer alewitischen Beerdigungsfeier im Istanbuler Arbeiterviertel Okmeydani mit großer Wahrscheinlichkeit durch eine Polizeikugel. In der Nacht gab es im gleichen Viertel angeblich auch bewaffnete Angriffe auf die Polizei. Die Vorfälle könnten auch einen weiteren Schatten auf Erdogans Besuch am Sonnabend in Köln werfen, gegen den vor allem Alewiten protestieren wollen.

Der neue Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Safter Cinar, hält den Besuch des türkischen Regierungschefs hingegen für legitim. Ethisch könne zwar darüber diskutiert werden, ob der Besuch kurz nach dem Bergwerksunglück in der Türkei mit über 300 Toten angemessen sei, sagte Cinar. Daraus eine politische Forderung zu machen, dass er nicht nach Köln kommen dürfe, gehe jedoch zu weit.

In Istanbul hatten die jüngsten Auseinandersetzungen am Donnerstag scheinbar harmlos begonnen. Eine Gruppe von etwa 15 Gymnasiasten wollte wie jeden Donnerstag an der Stelle demonstrieren, an der der 14-jährige Berkin Elvan letzten Sommer von einer Tränengasgranate der Polizei am Kopf getroffen wurde. Der Junge starb nach neun Monaten im Koma. Die Polizei ging wie gewohnt gegen den kleinen Protest vor, traf aber auf Widerstand. Ein Molotowcocktail zerplatzte an der durch ein Gitter geschützten Frontscheibe eines Polizeifahrzeuges. Fahrer und Beifahrer sprangen aus dem Fahrzeug, das kurz darauf von Passanten gelöscht wurde. Im gleichen Moment waren zahlreiche Schüsse von Polizisten zu hören und in 30-40 Meter Entfernung stürzte ein Mann im Hof eines alewitischen Kulturvereins zu Boden. Es handelte sich um den 30-jährigen Arbeiter Ugur Kurt, der gekommen war, um an einer Beisetzungsfeierlichkeit teilzunehmen. Eine Kugel hatte seinen Hals durchschlagen und er starb noch am gleichen Abend.

In der Nacht kam es in dem hauptsächlich von Alewiten bewohnten Viertel Okmeydani zu Auseinandersetzung zwischen der Polizei und Demonstranten. Nach Darstellung der Polizei wurden 20 Polizisten teilweise durch Rohrbomben verletzt. Auch zwei Passanten sollen von den Splittern dieser Bomben getroffen worden sein, einer starb inzwischen im Krankenhaus. Außerdem wurde einem Polizisten ins Bein geschossen.

Die Polizei beschlagnahmte einige Schusswaffen, es war aber zunächst nicht klar in welchem Zusammenhang. Auch die Waffen von 20 Polizisten, die geschossen haben, werden untersucht.

Die Reaktion bei vielen Alewiten war erst einmal Wut, ein »Warum immer wir?« Der Journalist Ismail Saymaz meinte bei einer Diskussion auf einem Nachrichtenkanal, dass die Polizei eben meine, sich in Alewitenvierteln alles erlauben zu können. Erinnerungen wurden wach an die Gazi-Unruhen von 1995 (nicht zu verwechseln mit Gezi). Damals hatten Schüsse auf von Alewiten besuchte Teehäuser Demonstrationen ausgelöst, auf die die Polizei wiederum schoss. Insgesamt starben 23 Menschen, bis das Militär Polizei und Demonstranten trennte. Auch eine Verschwörungstheorie macht die Runde, demnach wollte die Regierung von dem Grubenunglück in Soma ablenken. Just am Donnerstagabend wurde der vorläufige Bericht über die Katastrophe veröffentlicht. Demnach lag bei dem Unfall schuldhaftes Verhalten vor. Tagelang hätten Messgeräte zum Teil das Zehnfache des Grenzwertes für giftiges Kohlenmonoxid in der Atemluft angezeigt. Das war zugleich der maximale Wert, den die Geräte überhaupt anzeigen konnten. Zugleich fiel der Anteil an Sauerstoff in der Atemluft unter das zulässige Minimum. Daraus wird der Schluss gezogen, dass eine Selbstentzündung der Kohle vorlag. Die Arbeiten wurden aber entgegen den Vorschriften nicht eingestellt.

Der Bericht steht im klaren Widerspruch zu der Erklärung des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan nach dem Unfall, wonach es sicher keine Verletzung der Sicherheitsvorkehrungen gegeben habe.

Verschwörungstheorien haben immer einen Punkt, wo so alles richtig zusammentrifft. Der Ablauf der Ereignisse in Okmeydani spricht - anders als seinerzeit in Gazi - eher gegen eine gezielt eingesetzte Provokation. Trotzdem lässt der Tod von Ugur Kurt bei vielen Alewiten Wut aufkommen. Erdogan hat die Alewiten ohnehin schon mehrfach provoziert, zum Beispiel indem er die dritte Brücke über den Bosporus ausgerechnet nach einem Sultan benennen will, der im 16. Jahrhundert Zehntausende Alewiten umbringen ließ. Doch Alewiten stellen nur etwa 15 Prozent der türkischen Wählerschaft und die meisten von ihnen würden ohnehin nie Erdogans sunnitisch-islamisch geprägte AKP wählen.

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