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Soziale Ziele nicht konkret genug

Vor 20 Jahren votierten die Menschen im Nordosten für eine neue Landesverfassung - diese fiel fast durch / Große Anfrage der Linksfraktion in Schwerin: Was wurde erreicht?

  • Iris Leithold
  • Lesedauer: 3 Min.

Schwerin. Rund drei Jahre feilte Anfang der 1990er Jahre eine Kommission an einer Landesverfassung für Mecklenburg-Vorpommern - und dann das: Am 12. Juni 1994 wäre das 80 Artikel umfassende Grundrechte-Werk beim Volk beinahe durchgefallen. Nur 60,1 Prozent der Teilnehmer am bisher einzigen Volksentscheid in Mecklenburg-Vorpommern gaben der Verfassung ihre Stimme. Nach einer 1,7 Millionen D-Mark teuren Werbekampagne des Landtags für den Volksentscheid nahmen zwei Drittel der Wahlberechtigten daran teil.

»Es war nicht ohne Risiko, einen Volksentscheid durchzuführen«, erinnert sich der CDU-Bundestagsabgeordnete Eckhardt Rehberg aus Ribnitz-Damgarten bei Rostock. Er hatte sich ein besseres Ergebnis gewünscht, bekennt der heute 60-Jährige. Rehberg ist einer der wenigen heute noch aktiven Politiker, der die Verfassungsvorbereitungen als Mitglied des Landtags hautnah miterlebte.

Die PDS (heute: Die Linke) hatte vor dem Volksentscheid mit einer großen Kampagne versucht, die Staatsziele unter anderem um ein Recht auf Arbeit zu erweitern. Sie sammelte 65.000 Unterschriften. Da sich im Landtag trotzdem keine Mehrheit für eine Änderung vor dem Volksentscheid fand, rief die PDS zur Ablehnung der Verfassung auf. Auch den Bündnisgrünen und vielen Sozialdemokraten waren die sozialen Ziele des Landes nicht konkret genug formuliert. »Wir haben es mit unserer Position bei der eigenen Parteibasis schwer«, war am Tag nach dem Volksentscheid in den Fraktionsräumen der SPD im Schweriner Landtag zu hören. Die Verfassung war am 14. Mai 1993 vom Parlament mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen worden. Die SPD-Fraktion hatte mit den damaligen Regierungsparteien CDU und FDP dafür gestimmt.

Der Sturm legte sich mit der Zeit. Heute ist die Landesverfassung allgemein anerkannt. Ein Beleg dafür mag die durchaus rege Inanspruchnahme des Landesverfassungsgerichts sein. Immer wieder ziehen Menschen nach Greifswald, weil sie ihre per Landesverfassung verbrieften Rechte verletzt sehen. Die Richter wiesen etwa 2007 die Landesregierung in die Schranken, als sie das Gesetz zur damals geplanten Kreisgebietsreform kippten. Vier Jahre später wurde gegen den zweiten Anlauf wieder geklagt - dieses Mal bestätigte das Verfassungsgericht aber das Reformgesetz. Weitere wichtige Entscheidungen betrafen im Jahr 2000 den Wegfall der Fünf-Prozent-Hürde bei Kommunalwahlen und im Januar 2014 den Umgang mit der rechtsextremen NPD im Landtag.

Mecklenburg-Vorpommerns Verfassung ist seit ihrem Inkrafttreten am 15. November 1994 mehrfach verändert worden. Im Jahr 2000 wurde das sogenannte Konnexitätsprinzip aufgenommen. Es besagt, dass das Land bei der Übertragung von Aufgaben an die Gemeinden und Kreise für die Kosten aufkommen muss. 2006 wurden die Wahlperiode von vier auf fünf Jahre verlängert und der Tierschutz aufgenommen. Ein Jahr später wurden in Artikel 18a Friedenspflicht und Gewaltfreiheit aufgenommen und schließlich 2011 die Schuldenbremse.

Aktuell bemühen sich die Grünen um niedrigere Mindestteilnehmerzahlen für Volksentscheide und Volksbegehren. »Nach 20 Jahren wollen und müssen wir jetzt mehr Demokratie wagen«, sagt der Fraktionsvorsitzende Jürgen Suhr. Mit dem Vorankommen der Initiative ist er nicht zufrieden: »Sie schlummert seit Monaten im Rechtsausschuss«, kritisiert er.

Die Linke hat das 20-jährige Verfassungsjubiläum, das im November mit einer Festveranstaltung im Schweriner Schloss gewürdigt werden soll, zum Anlass für eine der seltenen Großen Anfragen genommen. Mit 400 Einzelfragen will die größte Oppositionsfraktion herausfinden, ob die bisherigen Landesregierungen die Ziele der Landesverfassung erreicht haben. Bis Ende März 2015 werden die Antworten der Landesregierung erwartet. Für Landtagspräsidentin Sylvia Bretschneider (SPD) beschreibt die Verfassung von 1994 den Wertekonsens, der die in Mecklenburg-Vorpommern lebenden Menschen miteinander verbindet. Änderungen werde es immer wieder geben, da sich neue Herausforderungen ergeben, sagt Bretschneider: »Eine Verfassung kann daher nichts Statisches sein. Sie lebt.« dpa/nd

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