Lebenslauf mit Nymphe

Wolfgang Richter: »Grenzwertig« soll keine Autobiographie sein

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Einige Seiten handeln sogar im ND, das sich damals noch in Versalien schrieb. Ein Fotograf Schönfelder, kommt vor, ein Schönfeld hat tatsächlich hier gearbeitet. Wie der Autor, Wolfgang Richter, auch - als Sport-Journalist (nicht wie Thomas aus dem Buch als Bildreporter). Und nun ist er ein Romanautor: Er wollte sein Leben resümieren, aber nicht zu der großen Masse derjenigen zählen, die ihre Lebensgeschichte zu Papier bringen. Kein Rückblick nach dem Motto »Ach, was habe ich doch Interessantes erlebt« sollte es werden, sondern eine Geschichte, die eine spannende Handlung hat und dabei Gesellschaftliches reflektiert.

Ein Familienroman, aber es ist kein dickes Buch. Die Handlung beginnt im Januar 1945, als Graf von Brühl sich von Ludwig Riemann, langjähriger Mitarbeiter seiner Forstverwaltung, verabschiedet und ihm ein wertvolles Stück aus dem berühmten Meißner Schwanenservice schenkt: eine Nymphe. »Die zarte Figur war umhüllt von filigranem, muschelfarbigem Porzellan-Gewebe, das liebliche Gesicht umrahmt von goldgelocktem Haar mit einem geflochtenen Kranz in zartem lindgrün. Die linke Hand war neckisch in den Nacken gelegt, in der rechten Hand hielt die Mädchenfigur eine saphirblaue Schale über dem Kopf, und auf dem ovalen Sockel schwamm auf schaumgekrönten Wellen ein Schwanenpaar, umgeben von Schilf und Gräsern in dezenten Farben.«

Ludwig Riemanns Sohn Thomas (Wolfgang Richter mag damals seinem Alter gewesen sein) hatte verständlicherweise nicht viel Sinn für die Schönheit der Porzellanfigur. Die Eltern zwar eher, aber selbst wenn sie nicht wussten, dass das gute Stück von keinem Geringeren als Johann Joachim Kaendler war, brachte der geahnte Wert sie in Verlegenheit. Die Front war nahe, und Mutter Riemann entschloss sich zu einem ungewöhnlichen Schritt.

Wie mag Wolfgang Richter nur auf die Idee gekommen sein, auf dem Friedhof bei Schloss Pförten, heute Brody in Polen, eine Nymphe zu begraben? Sie dann sogar wieder herausholen zu lassen und schließlich … Nein, das soll hier nicht verraten werden. Aber gesagt soll sein, dass auch Thomas’ Sohn Sascha eine Rolle spielt, der im Buch das letzte Wort bekommt.

Ein Roman über drei Generationen also, nicht nur, um teilweise fiktiv verfremdet eigenes Erleben zu reflektieren, sondern wohl auch, um der Generation der Väter zu gedenken. Was sie so alles mitmachen mussten! Zwei Kriege, mehrere Notzeiten, Umbrüche. Was für Anpassungsleistungen sind von ihnen erwartet worden. Kein Wunder, dass der alte Riemann sich nicht so einfach einfügen lässt. Dass er der DDR gegenüber lange skeptisch war, man kann es verstehen, aber nach dem Ende des Staates findet er Worte der Verteidigung.

Und Thomas: Er gehört zu denjenigen, denen die DDR ungeahnte Chancen eröffnete. Tischlerlehre, ABF, durch Fürsprache des Pressezeichners Leo Haas, den er bei einer Hochzeit kennengelernt hatte, stand er, ganz jung noch, dem ND-Chefredakteur Hermann Axen gegenüber, der ihn als Praktikant in sein Haus aufnimmt. Was bei Wolfgang Richter viele Stationen brauchte - Wismut-Bergmann (die Erfahrung findet sich im Buch wieder), Autobauer in Zwickau, NVA-Offiziersschüler, Journalistik-Studium in Leipzig --, schafft Thomas in einem Sprung. Das kommt dem Umfang des Buches zugute. Andernfalls hätte der Autor ja seine Nymphe aus dem Blick verloren. So aber hält er den Spannungsbogen.

Wolfgang Richter: Grenzwertig. Die Nymphe, die sich zweimal bestatten ließ. Windsor Verlag. 130 S., br., 10,99 €.

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