Der haarige Prophet als Anführer

David Luiz lebt Brasilien vor, wie gegen Deutschland Trauer in Trotz verwandelt wird

  • Frank Hellmann, Belo Horizonte
  • Lesedauer: 5 Min.
In Abwesenheit von Kapitän Thiago Silva und Superstar Neymar muss der Anführer David Luiz bei Brasiliens Nationalmannschaft im Halbfinale gegen Deutschland drei Rollen auf einmal bekleiden.

Die ganz große Geste, sie gehört ihm: mit beiden Knien auf den Rasen sinken, das breite Kreuz durchgestreckt und beide Arme zum Himmel reckend. Die ausladende Lockenpracht wippt auf und ab, wenn er die Stoßgebete vom Anstoßpunkt in den Nachthimmel sendet. Die TV-Regie kann kaum anders, als einen Kameramann umgehend aufs Spielfeld zu schicken, denn keiner flehte die höheren Mächte nach den gewonnenen K.-o.-Duellen gegen Chile und Kolumbien lauter und leidenschaftlicher um weiteren Beistand für die Seleção an: David Luiz.

Alle schauten mit dem Schlusspfiff also immer auf ihn. Im Halbfinale am Dienstag gegen Deutschland (17 Uhr Ortszeit) aber blickt ganz Brasilien schon mit Anpfiff auf seine Nummer vier. Neymar ist der Star, Thiago Silva der Kapitän, David Luiz der Anführer. Doch der Torschütze vom Dienst fällt mit Lendenwirbelbruch aus, der Chef der Abwehr fehlt wegen zu vieler gelber Karten. »Jetzt müssen wir für Neymar spielen, für Thiago Silva und mehr als zuvor Krieger sein«, fleht Luiz. Wenn einer für alle kämpft, läuft und grätscht, dann der Mann mit der ungezähmten Zottelmähne, die er sich hat wachsen lassen, »damit ich im Winter in London keine kalten Ohren bekomme«.

Das brasilianische Ensemble, so viel ist klar, braucht gegen die deutsche Elf den zentralen Verteidiger noch viel mehr als zuvor. Er will mit Worten und Taten vorleben, wie Trauer in Trotz umgewandelt wird. »Wir werden einen Pakt abschließen, um die Stärke dieser Mannschaft zu zeigen«, verspricht der 27-Jährige. Wie er auftritt, ist bezeichnend. Unbeugsam, immer unbequem. Hart, immer herzhaft. Impulsiv, immer intensiv. Keiner steht mehr für Körperlichkeit als die 1,89-Meter-Koryphäe.

Diese Rolle hat der aus einem Armenviertel in Diadema bei São Paulo aufgewachsene Kicker seit dem Confederations Cup vor einem Jahr für sich erobert. Niemand hat Luiz in sie hineingedrängt, er hat sie auch nicht herbeigeredet, aber mit seiner Widerstandskraft, nichts und niemanden an sich vorbeizulassen, hat ihn diese Aura irgendwann umgeben. Früher jauchzte das brasilianische Publikum bei seinen Zauberern; jetzt jubelt es, wenn solche Zerstörer Gegenspieler abkochen wie Luiz den Kolumbianer Cristian Zapata, den er im Vollsprint über den ganzen Platz verfolgte, bis er den Ball erobert hatte. Nicht immer wirkt sein Einsatz legitim, doch am vergangenen Freitag beging Luiz von den 31 brasilianischen Fouls gerade einmal zwei.

Genauso viele WM-Tore hat er auf dem Konto, es sind seine einzigen Treffer in 41 Länderspielen. Bei der Premiere im Achtelfinale half er nur irgendwie mit, dass die Kugel über die Linie prallte, aber der Freistoß im Viertelfinale aus fast 30 Metern war ein Kunststück. »Ich habe so krumme Beine und daher mit der Innenseite geschossen«, erklärte das Unikum mit einem schelmischen Grinsen seinen unorthodoxen Kracher.

Heute im Estadio Mineirao von Belo Horizonte muss sich Luiz jeden Vorstoß überlegen, weil sein Nebenmann Dante (siehe Porträt rechts) heißen wird - ein Duett der Wuschelköpfe. Dass sein kongenialer Mitstreiter Silva und nicht Luiz gesperrt aussetzt, ist eine wunderliche Geschichte, denn letzterer agiert eigentlich aggressiver. Silva gibt einen eleganten und exzellenten Defensivmann, ist aber bisweilen auch ein zweifelnder Kapitän. Er bekam ob des großen Drucks bereits Heulkrämpfe in Spielen, konnte vor der WM nächtelang nicht schlafen. Niemand mag sich vorstellen, was passiert wäre, wenn der 29-Jährige wirklich den sechsten Elfmeter gegen Chile geschossen hätte - er hätte vor Aufregung wohl in den Boden getreten. Luiz versenkte hingegen abgeklärt gleich den ersten Strafstoß.

So lässig er das gemacht hat, so locker gibt er sich, wenn das Spiel aus ist. Als der Stützpfeiler schlechthin am Freitag endlich auch mal zum »Man oft he match« gewählt wurde, kam er in Badelatschen zur Pressekonferenz. Seinem Nationaltrainer Luiz Felipe Scolari gab er erst einen Klaps auf den Po, dann setzte er sich, zwinkerte und redete über das Halbfinale gegen Deutschland. Fünfmal benutzte der Matchwinner das englische Wort »great«, um den Gegner zu beschreiben - »großes Team, große Philosophie, große Spieler, großer Trainer, großes Spiel«. Seine prägnante Botschaft: »Das ist die Weltmeisterschaft! Semifinale!«

Abseits der großen WM-Arenen spaßt der Musterprofi gerne mit seinen Mitspielern. Auf dem Trainingsplatz in Teresópolis fällt er oft als Ulknudel auf. Luiz, der in seiner Zeit bei Benfica Lissabon überzeugt werden sollte, portugiesischer Nationalspieler zu werden, kann so und so. Als James Rodriguez, der wunderbare Kolumbianer, bitterlich wegen des Ausscheidens weinte, tröstete ihn David Luiz. Gleich danach posaunte er mal wieder voller Pathos etwas in die Mikrofone hinaus - und er scheint das alles selbst zu glauben.

Derzeit wirkt sein Selbstvertrauen unerschütterlich. Es erinnert an den Moment, in dem es der Unerschrockene schon einmal mit allen aufnahm - und viele seiner heutigen Gegenspieler wollen daran nicht erinnert werden. Es liefen im Mai 2012 die letzten Minuten des Champions-League-Finals zwischen dem FC Bayern München und Chelsea London, als die »Blues« ihren ersten Eckball der Partie erhielten. Legendär, wie Luiz nach vorn rannte und Bastian Schweinsteiger zuraunte: »And now: Goal!« Didier Drogba köpfte den Ball an Manuel Neuer vorbei ins Tor.

Die Bayern wollten den haarigen Propheten m Sommer 2014 nun selbst verpflichten, doch Paris St. Germain hatte die bessere Offerte - und seinen Landsmann Silva als Partner - zu bieten, weshalb Luiz seinen 2011 an der Stamford Bridge geschlossenen Fünfjahresvertrag brach und an der Seine unterschrieb. 50 Millionen Euro Ablöse sollen fließen. Nie ist mehr Geld für einen Abwehrspieler ausgegeben worden.

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