Clara und die toten Großväter

In Wiederau verdrängte eine Kriegsgegnerin zeitweise das »Kriegerdenkmal«

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.

Die ersten Toten ließen nicht lange auf sich warten. Kaum vier Wochen war der Krieg alt, der später der I. Weltkrieg genannt werden würde, da beklagte Wiederau den ersten Gefallenen. Reinhard Pötzsch starb am 1. September 1914 in einem Lazarett in St. Loup Terrier, einem Dorf in den Ardennen. Er war der Bruder seines Großvaters väterlicherseits, sagt Karl-Heinz Pötzsch, Ortschronist des sächsischen Dorfes. Und er ist der erste in der langen Reihe jener Männer aus Wiederau, die in den nächsten vier Jahren ihr Leben ließen. Auf dem Denkmal, mit dem die Gemeinde später die Kriegstoten ehrte, steht er oben links. Es folgen 61 weitere Namen.

62 gefallene Väter, Söhne, Ehemänner allein unter den 1100 Wiederauern: Der Krieg riss schmerzliche Lücken in fast jede Familie. Die von Pötzsch traf es doppelt; im Juli 1917 verlor bei Langemark in Flandern auch Oswin Kirsten das Leben, der Vater seiner Mutter. Seine Großmutter blieb mit zwei Töchtern allein. »Sie hat nie wieder geheiratet und musste sich allein durchschlagen«, sagt Pötzsch: »So ging das vielen im Dorf.« Die Frauen mussten nicht nur ohne die geliebten Männer weiterleben; sie hatten zunächst auch nicht einmal einen Ort, an dem sie um diese trauern konnten. St. Loup Terrier und Langemark liegen 800 Kilometer von Wiederau entfernt. Selbst wenn die Kriegsopfer dort ein Grab erhalten hätten und nicht einfach in einem Graben verschüttet worden sein sollten - für eine Bauersfrau oder eine Textilarbeiterin jener Zeit waren die Orte, an denen ihre Männer vermeintlich für Kaiser und Vaterland gefallen waren, unerreichbar fern.

Ab 1929 gab es einen Platz zum Trauern und Erinnern. In Wiederau wurde, wie davor und danach in nahezu jedem anderen deutschen Ort, ein Denkmal errichtet: drei Tafeln aus schwarzem Granit, die unterhalb der Kirche neben der Hauptstraße angebracht wurden. »Unseren gefallenen Helden in Dankbarkeit gewidmet«, heißt es auf der mittleren; dazu die Jahreszahlen 1914 und 1918, von der Silhouette eines Stahlhelms getrennt, und die 62 Namen der Toten. Dieser Teil des Denkmals ist heute noch - oder wieder - zu sehen. Es fehlt ein Sockel, der das Denkmal in der ursprünglichen Form komplettierte: mit Eisernem Kreuz und dem Spruch »Die Helden tot, das Volk in Not«.

Der Satz findet sich auch andernorts an ähnlichen Denkmälern. Wie viele vergleichbare Sprüche deutet er an, dass es beim Bau nicht nur darum ging, einen Ort zu schaffen, an dem Hinterbliebene Blumen ablegen konnten. Mag das tatsächlich die Intention der Bürger, Kirchgemeinden oder Vereine gewesen sein, die für den Bau sammelten, so gab es in Staat und Politik auch andere Motive, den Bau der Denkmäler voranzutreiben. Kriegerdenkmale, schreibt der Historiker Kurt Pätzold, seien stets auch Orte gewesen, um »Reden zu hören und Bekenntnisse abzugeben, die Deutschlands Größe und seinem Helden- und Kriegsruhm galten und den Gedanken an die noch ausstehende Revanche pflegten«. Wahrscheinlich ist, dass auch in Wiederau Schüler dazu angehalten wurden, den Spruch zu deuten - einen Spruch, der ahnen lässt, wie aus Trauer über den verlorenen Krieg und Wut über die wirtschaftliche Not eine Stimmung geschürt wurde, die neue Kriege denkbar werden ließ. Neue »Helden«, so die unterschwellige Botschaft, sollten das Land aus der Misere holen.

In Wiederau ist der Spruch heute nicht mehr zu lesen. Das ist ein Ergebnis einer historischen Volte, die 1968 zunächst sogar zum Abriss des Denkmals führte. Die Erinnerungsstätte für die Kriegstoten sollte einem Gedenkort für eine berühmte, in Wiederau gebürtige Kriegsgegnerin weichen. Die Rede ist von Clara Zetkin, 1857 als Tochter des Kantors im Ort geboren, aufgewachsen in dem Schulhaus, das knapp oberhalb des Kriegerdenkmals steht. Seit 1952 beherbergt das Gebäude ein Museum zum Gedenken an die Frau, die Sozialdemokratin und später Kommunistin war, Frauenrechtlerin - und nicht zuletzt vehemente Kriegsgegnerin. Als die SPD-Fraktion am 4. August 1914 im Reichstag den Krediten für den Krieg zugestimmt hatte, dem später auch Oswin Kirsten, Reinhard Pötzsch und weitere 60 Wiederauer zum Opfer fielen, meinte Zetkin »wahnsinnig zu werden oder mich töten zu müssen«. 1915 organisierte sie in Bern eine internationale Konferenz sozialistischer Frauen gegen den Krieg. Ihre Haltung führte sie zunächst in den Spartakusbund, dann in die nach dem Ausschluss vieler Kriegsgegner aus der SPD gegründete USPD und schließlich in die KPD.

In der Rückschau kann es als eine durchaus sinnreiche Wendung der Geschichte erscheinen, dass das Kriegerdenkmal an der Hauptstraße von Wiederau entfernt wurde, um eine Pazifistin zu ehren - auch wenn das für sie geschaffene Denkmal erst sechs Jahre nach Verschwinden des Vorgängers im Sommer 1974 aufgestellt wurde. Die Bronzeplastik schuf der Bildhauer Harald Stephan aus Karl-Marx-Stadt. Zuvor lud ihn der Bezirksvorstand des Demokratischen Frauenbunds (DFD) in die Gedenkstätte ein. Der Besuch solle es ihm ermöglichen, die »geistige Haltung der bedeutenden Frau besser auszudrücken«; hieß es in einem Zeitungsartikel; schließlich sollte er »nicht nur das Mütterliche« Zetkins darstellen, sondern vor allem die »Führerin der internationalen Arbeiterklasse«.

Als solche stand Zetkin fortan an der Fernstraße F 107 in Wiederau. Auf ihr rollten vor allem zu Anlässen wie dem Internationalen Frauentag am 8. März, der auf Zetkins Initiative seit 1910 gefeiert wurde, Busse mit Schülern, Lehrlingen und Betriebskollektiven nach Wiederau. Freilich: Ehrliches persönliches Interesse war eher selten das Motiv für die Reise; selbst Wohlmeinende empfanden die Ausflüge oft als »Pflichtbesuche«. Dass Zetkin in grundsätzlichen Fragen mit namhaften Genossen über Kreuz gelegen hatte, erfuhren die Besucher der Ausstellung nicht; statt dessen lasen sie, dass »das, wofür Clara Zetkin und die Besten der Arbeiterklasse ein Leben lang gekämpft haben, in der DDR Wirklichkeit« sei.

Der Spruch ist heute im Museum nicht mehr zu finden, und auch die Zetkin-Plastik steht nicht mehr an der heutigen Bundesstraße B 107. Statt dessen wird dort wieder der Kriegstoten gedacht. Am 25. März 1993 beschloss der Gemeinderat, das Denkmal wieder aufzubauen, das ein Vierteljahrhundert zuvor entfernt worden war. Der Beschluss fiel einstimmig, betont der damalige Bürgermeister Reiner Scheffler. Zuvor waren die 1968 abmontierten Tafeln mit den Namen der Gefallenen unvermutet im Lagergebäude eines Gasthofs wieder aufgetaucht. Gänzlich originalgetreu erfolgte der Wiederaufbau nicht. Weil die Bundesstraße verbreitert worden war, wurde das Denkmal um 90 Grad gedreht. Zudem entschied man sich, auf das ebenfalls noch vorhandene Eiserne Kreuz und den Spruch zu verzichten. »Davon nahmen wir Abstand«, sagt Scheffler, »uns ging es nur um das Gedenken an die Toten.«

Dennoch: ein Kriegerdenkmal erneuert, die Pazifistin beiseite geräumt - was in Wiederau geschah, scheint zur verbreiteten Denkmalsstürmerei der frühen 90er Jahre zu passen, als reihenweise Ikonen des DDR-Geschichtsbilds beseitigt wurden. Freilich: Ganz so einfach liegen die Dinge in Wiederau nicht. Tatsächlich wurde der Skulptur Zetkins übel mitgespielt: Sie wurde umgestürzt, beschmiert, schließlich in einem Gebüsch abgeladen, »wo die Vögel auf sie kackten«, sagt Scheffler. Die Kommunalpolitik indes trug derlei Verunglimpfung nicht mit - weil »die Clara das nicht verdient«, sagt der Bürgermeister und setzt zu einer Lobrede auf die berühmteste Tochter des Ortes an, die zwar nicht in allen Details historisch korrekt ist, aber ein anhaltend inniges Verhältnis zu Zetkin offenbart: Sie sei, weil sie als Kämpferin für die Rechte der Frau bei der SPD nicht genügend Mitstreiter gefunden habe, in der KPD gelandet, sagt Scheffler und fügt an: »Das, wofür sie kämpfte, war etwas Gutes.«

Also ließ Scheffler die Plastik aus dem Gebüsch holen - und im kleinen Garten neben dem Haus ihrer Kindheit aufstellen, in dem eine vom Heimat- und Naturverein betreute Ausstellung heute liebevoll und umfassend über Zetkins Leben und Ideen informiert. An ihrem neuen Standort fällt sie den Reisenden auf der B 107 ins Auge - und ist zugleich, wie Scheffler anmerkt, vor Beschädigungen geschützt, weil der Weg in den Garten durch das Museum führt.

Das an ihrer Stelle errichtete Kriegerdenkmal, auf das Zetkin milde herabschaut, versteht man in Wiederau heute als Erinnerungsort für die Toten - die freilich nicht einem abstrakten tragischen Schicksal zum Opfer gefallen seien, sondern einem »Raubkrieg«, wie Scheffler klarstellt. Auch er hat einen Vorfahren unter den Toten: Paul Fuhrmann, seinen Großvater. Als dieser am 3. November 1916 in der Schlacht an der Somme fiel, war seine Tochter - Schefflers Mutter - gerade mal ein Jahr alt.

Im Jahr, als die junge Frau 24 wurde, brach Deutschland dann den nächsten Raubkrieg vom Zaun, einen Krieg, den manche als Revanche für die toten »Helden« des Ersten Weltkriegs verstanden. Für den politischen Größenwahn zahlten erneut viele mit ihrem Leben. Aus Wiederau ließen 111 Männer als Soldaten ihr Leben, jeder zehnte Dorfbewohner. An sie und die vielen anderen Opfer des Gemetzels erinnert heute ein kleiner Gedenkstein, der unterhalb des Denkmals für die Toten von 1914-18 in den Rasen eingelassen ist. Auf die Nennung der Namen wurde verzichtet.

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