Mit Muskeln und Herz

Italiener mit Instinkt: Vincenzo Nibali ist der kompletteste Fahrer der 101. Tour de France

  • Tom Mustroph, Paris
  • Lesedauer: 5 Min.
Nach seinem Sieg bei der Frankreichrundfahrt nimmt Vincenzo Nibali an etlichen Post-Tour-Rennen teil. Das ist nicht die einzige Tradition, die der Italiener im Radsport wiederbelebt.

Der Radsport hat einen neuen Helden alter Prägung: Vincenzo Nibali ist - unfallfreies Fahren zum Ziel auf dem Champs-Elysees vorausgesetzt - in den exklusiven Klub der »Grand Slam«-Sieger eingetreten. Vor dem Italiener hatten nur die Franzosen Bernard Hinault und Jacques Anquetil, Nibalis Landsmann Felice Gimondi, der Belgier Eddy Merckx und der Spanier Alberto Contador die Landesrundfahrten in Spanien, Italien und Frankreich gewonnen. Mit Gimondi vergleicht man Nibali in seiner Heimat gern wegen der Vielseitigkeit und der unerschütterlichen Ruhe auch in hektischen Rennsituationen. Mit Merckx, dem wohl größten Radsportler aller Zeiten, verbindet Nibali eine der zwei martialischen Liebkosungen seiner Fans. Neben »Hai von Messina« haben sie ihn - abgeleitet von Merckx' Kampfnamen »Kannibale« - »CanNibali« getauft.

Doch nicht nur wegen dieser Parallelen bringt der »Hai« den Radsport in tradierte Gewässer. Nibali plant nach seinem Toursieg auch eine Woche lang an den zahlreichen Post-Tour-Kriterien in Belgien und den Niederlanden teilzunehmen. »Er wird sechs Rennen in acht Tagen bestreiten. Aber das bedeutet kaum Stress, sondern ist eher ein verlängertes Feiern des gelben Trikots«, meint Nibalis Trainer Paolo Slongo gegenüber »nd«.

Diese Eintages-Rennen nach der Tour hatten große Tradition - bis der ausschließlich auf die »Große Schleife« fokussierte US-Amerikaner Lance Armstrong auftauchte. Die Technisierung des Radsports, die mit dem Amerikaner begann und mit den Sky-Männern Wiggins und Froome ihren Höhepunkt hatte, scheint an ein Ende gekommen. Mit Nibali besetzt nun jemand den Rundfahrt-Thron, der technischen Entwicklungen und rationalen Trainingsmethoden gegenüber durchaus aufgeschlossen ist, dabei aber auch dem Instinkt vertraut. Am besten demonstrierte er dies auf der zweiten Etappe, als er dem einen Moment unschlüssigen Peloton auf den letzten Kilometern entwischte und sich in Zeitfahrermanier Tagessieg und gelbes Trikot holte.

Er missachtete dabei eine eherne Regel des Watt-basierten Rundfahrtsports: Hole nie zu früh gelb, denn deine Mannschaft wird daran kaputt gehen. Gut, sein Astana-Team kriselte in den Alpen und teilweise auch in den Pyrenäen. Aber in diesen Momenten war der »CanNibali« so stark wie einst der echte »Kannibale« , auch ganz auf sich allein gestellt die Konkurrenz in Schach zu halten. Ihm kam freilich entgegen, dass im Hochgebirge die gefährlichsten seiner Gegner, der Brite Chris Froome und der Spanier Alberto Contador, nicht mehr im Rennen waren.

Als Nibali seine Mannschaft am nötigsten brauchte, war sie aber da: Auf der fünften Etappe bugsierte der Astana-Express Nibali perfekt über die regennassen Straßen Nordfrankreichs und das Lehm verschmierte Kopfsteinpflaster von Paris - Roubaix. Nibali selbst gab da eine prächtige Figur ab; er war kein abgemagerter Bergfloh, der über die Ochsenköpfe hoppelte und in permanenter Sturzgefahr schwebte. Rivale Froome hingegen, behindert durch einen Haarriss im Handgelenk, konnte sein Rad nicht mehr steuern. Contadors Tinkoff-Truppe scheiterte gleich bei der ersten Kopfsteinpflasterpassage, der Spanier verlor zweieinhalb Minuten.

»Ich bin zwar kein Mann des Wenn und Hätte. Aber ich bin davon überzeugt, diesen Vorsprung von zweieinhalb Minuten auf Contador hätte Vincenzo auch in den Alpen und Pyrenäen gehalten«, erzählte Nibalis Trainer Paolo Slongo danach. Sein Schützling erwies sich als der kompletteste Fahrer im Peloton der 101. Tour de France. Er sieht auf jedem Terrain gut aus - und steht auch deshalb für eine Renaissance des Radsports: Weg von den Überspezialisierungen hin zu Männern, die mit Muskeln, aber auch mit Herz fahren. Neben Gelbträger Nibali ist auch der Slowake Peter Sagan, der Mann in Grün, solch ein Vielseitigkeitskünstler.

Und auch Tony Martin erweist sich als einer. Dafür spricht sein famoser Solosieg auf der 9. Etappe nach Mülhausen. Dass er bei aller Diversifizierung in seiner Spezialdisziplin nichts eingebüßt hat, bewies mit seinem Sieg beim Zeitfahren am Samstag von Bergerac nach Perigueux. Als ein »brutales Zeitfahren« bezeichnete Martins Sportdirektor Rolf Aldag den 54 km langen, sehr welligen Parcours. Und er konstatierte ein »perfektes Rennen« seines Schützlings.

Einen weiteren Anschluss an alte Zeiten bot das Frauenrennen am Sonntag auf dem Champs Elysees. Schon in den 80er Jahren gab es eine Tour de France der Frauen auf gleichen Parcours wie dem der Männer, sogar als Mehretappenrennen über 15 Tage. »Die Tagesabschnitte waren kürzer. Wenn die Männer vier Berge nehmen mussten, so gab es für uns zwei. Aber es war großartig, die gleiche Kulisse wie die Männer zu haben«, erinnerte sich die Australierin Dona Rae-Szalinski. Liz Hepple, ebenfalls australische Tourstarterin in den 80er Jahren, hofft, dass die Tour »in Zukunft nicht einen Tag für die Frauen dauert, sondern eine Woche oder sogar so lange wie bei uns damals«. Aber es war ein Anfang.

Das Rennen, das von zahlreichen Ausreißversuchen, unter anderem auch durch die Cottbusserin Trixie Worrack, gekennzeichnet war, gewann die Niederländerin Marianne Vos vor ihrer Landsfrau Kirsten Wild, die wiederum im Giant-Trikot unterwegs ist und als »Marcel Kittel des Frauensprint« gilt.

Nachzutragen bleibt, dass Nibali sich am letzten Tag in den Bergen nicht nur in alte Zeiten, sondern auch in Ranglisten für die Ewigkeit fuhr. Seine Zeit beim Aufstieg nach Hautacam bedeutete zwar nur Rang 27 im Vergleich mit Vorgänger-Rundfahrten. Er war aber so besser als manch alter Dopingsünder. Auch seine kalkulierte Wattzahl lag mit 428 an diesem Tag erstmals sehr deutlich über der mit 410 Watt bezifferten Nichtdopinggrenze. Wegen seiner Leistung am Freitag benannte der »Bergradar«-Spezialist Antoine Vayer ihn mit dem wenig schmeichelhaften Titel »Letzter Übermensch der Tour de France«. Auf manche Tradition könnte man gut verzichten.

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