Kuhhandel mit Schäfchen

Kirchenobere vergleichen Austritte mit Tsunami und stehen Entfremdung von Christen ohnmächtig gegenüber

  • Thomas Klatt
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Entfremdung der Menschen von ihrer Kirche ist in Deutschland keine neue Erscheinung. Doch seit einigen Monaten brechen alle Dämme. Die Christen fliehen massenhaft ihre Kirchen.

Eine fast unglaubliche, aber doch wahre Geschichte beschreibt die dramatische Situation vielleicht am besten. Eine katholische Kollegin im tiefsten Westdeutschland beichtete mir, dass sie ihren Bischof, vor allem aber den neuen Papst prima finde. Leider lebe sie aber in permanenter finanzieller Schieflage und sie wolle zumindest vorübergehend Kirchensteuer sparen. Dennoch wolle sie aber Mitglied ihrer Kirche bleiben. Ich riet ihr zu einem vertraulichen Gespräch mit dem zuständigen Generalvikar. Der gewährte der gläubigen Journalistin denn auch rasch Audienz und bot ihr zur großen Überraschung eine Art Kuhhandel an. Sie solle auf jeden Fall Mitglied der Kirche bleiben, dafür würde er ihr unter der Hand für zwei Jahre die Kirchensteuer zurückerstatten.

Die Kirchenoberen kämpfen derzeit offensichtlich um jedes Schäfchen, das verloren zu gehen droht. Die großzügige finanzielle Entlastungsofferte des Generalvikars war mit seinem Wehklagen verbunden, dass die Mitglieder derzeit scharenweise weglaufen. Keine Welle, sondern ein regelrechter Austritts-Tsunami. Die Empörung über die Prunksucht des Bischofs Tebartz-van Elst im kleinen Limburg strahle auf alle anderen Bistümer und Landeskirchen aus. Zuvor erschütterte der Sexskandal die Gemeinden. Da ist kaum noch Platz für Differenzierungen. Egal ob evangelisch oder katholisch, die Leute wollen weg. Pro Tag treten mehr Menschen aus ihren Kirchen aus als in einen voll besetzten ICE hineinpassen. Nun aber scheint es noch schlimmer zu kommen. Betroffen sind vor allem die angestammten Kernländer der christlichen Kirchen in Westdeutschland.

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Selbst wenn die aktuellen Austrittszahlen der Kirchen dramatisch wirken, so wird oft vergessen, dass auch viele Menschen eintreten. Nicht nur, dass es etwa in angesagten Gemeinden wie Gethsemane in Berlin Prenzlauer Berg so etwas wie Zuwachs gibt. In den Bankreihen sitzen zum Gottesdienstbesuch seit Jahren vor allem junge Familien. Will man hier sein Kind taufen lassen, so muss man sich alsbald um einen noch freien Termin bemühen. Mehr

So traten in der evangelisch-lutherischen Landeskirche Bayerns etwa im ersten Halbjahr 2014 mehr als 14 000 Menschen aus, und damit mehr als doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Eine ähnliche Abwanderung vermeldet das Landeskirchenamt in Stuttgart aus seinen bislang strenggläubigen und treuen Gemeinden Württembergs. Und in der Evangelischen Kirche Hannover soll es jetzt auch schon 30 bis 40 Prozent mehr Austritte geben als in den vorherigen Jahren sonst üblich. Ähnlich sieht der dramatische Mitgliederschwund in den katholischen Bistümern aus.

Zumindest im Erzbistum Berlin gibt es derzeit keine signifikante Austrittswelle. Im Gegenteil vermeldet die dortige Pressestelle, dass die Zahl der Katholiken hier ansteigt. Rund 80 Prozent der Katholiken lebten im Ballungsraum Berlin, der für Zuzüge aus der ganzen Welt attraktiv sei. Jeder fünfte Katholik im Erzbistum Berlin ist nicht-deutscher Muttersprache. So verzeichnet man hier etwa eine große Zuwanderung aus dem benachbarten streng katholischen Polen. Bei den Protestanten allerdings heißt es auch hier Land unter. So sind in den letzten Jahren rund 10 000 Gläubige jährlich aus der Evangelischen Kirche Berlins ausgetreten. Eine Zahl, die 2014 bereits in den ersten sechs Monaten dieses Jahres erreicht wurde.

»Das ist eben eine neue Entwicklung, dass nun verstärkt auch Rentner aus der Kirche austreten«, vermeldet Volker Jastrzembski, Pressesprecher der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Das sei nicht nur finanziell, sondern auch seelsorgerlich dramatisch, meint Jastrzembski, verlören solche Menschen dann doch auch das Anrecht auf eine kirchlich begleitete Bestattung.

Schon lange weiß man aus den sogenannten Sinus-Studien, soziologische Erhebungen der gesellschaftlichen Milieus, dass vor allem in Westdeutschland der Kernmitgliederbestand der Kirchen im bildungsbürgerlichen und traditionell ländlichen Bereich zu finden ist. Man wurde halt als Baby getauft und zahlt brav Kirchensteuern, ohne groß darüber nachzudenken.

Nun aber wurden die Gläubigen nicht etwa von ihren Bischöfen, sondern von ihren Banken angeschrieben, auf denen sie ihr Guthaben horten. Denn diese müssen ab Januar 2015 die Kirchensteuer direkt von der Kapitalertragsteuer an das Finanzamt abführen. Wobei es sich bei einem Kirchensteuer-Gesamtvolumen von rund zehn Milliarden Euro jährlich alles andere als nur um Peanuts handelt. Die neue Rekordaustrittswelle verdeutlicht, dass Kirche vielen nicht mehr geldwert ist.

Nun treten vor allem die aus, die bislang zu den Getreuen gehört hatten. Das ist weniger ein quantitativer, als vielmehr ein qualitativer Verlust. Vielleicht liegt eine Erklärung auch darin, dass die Mitgliedschaft in einer Kirche heute alles andere als identitätsstiftend oder gar heilsnotwendig ist. Schon vor Jahren stellte der evangelische Theologe Henning Schluß fest, dass Religion eine der wenigen Gesellschaftsbereiche ist, in der sich der Mensch nicht zwingend positionieren muss, anders als etwa im Beruf oder in Bezug auf den eigenen Lebenspartner. Ob und wie ich es mit der Religion halte, ist längst keine Gretchenfrage mehr, sondern schlicht egal.

Nun aber wurden die Menschen mit dem Anschreiben der Banken unangenehm darauf aufmerksam gemacht, sich zumindest finanziell zu ihrer Religion bekennen zu müssen. Dass nun so viele Menschen diese im Grunde steuertechnische Lappalie zum Anlass nehmen auszutreten, wirft ein bezeichnendes Licht auf die mittlerweile große Entfremdung der Noch- oder Nichtmehr-Mitglieder zur organisierten Christenheit.

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