Nah an der eigenen Zeit und darüber hinaus weisend

Karin Kiwus: Von den 70er Jahren bis in die Gegenwart reicht ihre Gedichtsammlung »Das Licht der Welt«

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Werk der promovierten Publizistin, Germanistin und Politologin Karin Kiwus, die als Lektorin, als Lehrbeauftragte an Universitäten und 1975 bis 2005 als Sekretär der Abteilung Literatur der Berliner Akademie der Künste gearbeitet hat, ist übersichtlich und schmal. Gerade mal vier Gedichtsammlungen 1976, 1979, 1992 und 2006. Dabei sind ihre Texte, wie Mirko Bonné, im Nachwort bemerkt, von zwei großen Themen bestimmt: Körper und Zeit. »Um Erinnerbarkeit, Körperlektüre, Zeit und ihr Verschwimmen in der Tiefe des Gemüts« dreht sich ihre Lyrik. Der Leser kann eine Spur der Zeit rekonstruieren in diesen Texten, die vom Erkunden des Körpers, von Begehren und Enttäuschungen (in den Gedichten der 70er Jahre im Zeichen der sog. »Neuen Subjektivität« nach dem Frust über die ausgebliebenen Wirkungen von 68) bis zu Reflexionen über das Alter in der späten Sammlung reichen.

Wenn man sich an Etiketten versucht, lägen Begriffe wie Alltagslyrik oder Gelegenheitsdichtung nahe. Mal lakonisch-kurz, dann im Zeichen des Langgedichts, wie es z. B. Günter Herburger in den 70er Jahren poetologisch auf den Punkt gebracht hat: Gedichte sollen verstopften Schubladen gleichen. Um Gedichte im Handgemenge, so eine seinerzeit populäre Formulierung, handelt es sich dabei freilich nur in seltenen Fällen. Dann nämlich wenn Kiwus auf die Defizite an der Beziehungsfront aufmerksam macht. Etwa in dem Gedicht »Fragile«, das in Tonlage und Haltung ganz im Trend der späten 70er Jahre steht und sich in der Nähe der frühen Texte einer Ulla Hahn befindet: »Wenn ich jetzt sage/ ich liebe dich/übergebe ich nur/ vorsichtig das Geschenk/ zu einem Fest das wir beide/ noch nie gefeiert haben« - lautet die erste Strophe, auf die der Abgesang folgt: »Und wenn du gleich/ wieder allein/ deinen Geburtstag/ vor Augen hast/ und dieses Päckchen/ ungeduldig an dich reißt/ dann nimmst du schon/ die scheppernden Scherben darin/ gar nicht mehr wahr.« Oder im Gedicht »Lösung«, das nach Desillusionierungen im Blick auf das Menschheitsdilemma schlechthin das Verhältnis der Geschlechter zueinander bilanziert: »Im Traum/ nicht einmal mehr/ suche ich/ mein verlorenes Paradies/ bei dir// ich erfinde es/ besser allein/ für mich// In Wirklichkeit/ will ich/ einfach nur leben/ mit dir so gut/ es geht.«

Dann die Gedichte der 90er Jahre bis in die Gegenwart: Ein älter gewordenes lyrisches Ich lässt Stationen eigenen Lebens und Erlebens, auch der (großen) Geschichte Revue passieren. Es häufen sich die Aufzählungen und genauen Benennungen, als solle festgehalten werden, was im Strudel der Zeit unterzugehen droht. Ja, es gilt, dem Zeitstrom Geschehnisse, Widerfahrnisse ebenso wie Glücksmomente abzutrotzen - etwas zu fixieren. Was sich, je näher die Texte an die Gegenwart heranreichen, mehrt, sind Elemente des Hermetischen und Verschlossenen, um das Einvernehmliche und Selbstverständliche, den »common sense« zu irritieren.

Es war eine wunderbare Idee des Verlags, diese Lyrik-Sammlung zu veranstalten. Der Rezensent liest Kiwus’ Gedichte als »Momentbilder sub specie aeternitatis«, wie einmal eine Kolumne in der Zeitschrift »Jugend« aus dem Jugendstil hieß: ganz nah an ihrer eigenen Zeit und doch wieder weit darüber hinaus weisend.

Karin Kiwus: Das Gesicht der Welt. Gedichte. Schöffling & Co. 352 S., Leinen, 22,95 €.

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