Brauchtum, Genuss und Übergriffe

Oktoberfest: Beratung für den sicheren Heimweg

  • Eva Steinlein, München
  • Lesedauer: 3 Min.

Brauchtum, Tradition, Genuss - das verbinden Besucher und Wirte mit dem Münchner Oktoberfest. Doch die fröhliche Ausgelassenheit kann auch ins Gegenteil umschlagen. Im Gedränge werden junge Frauen begrapscht oder sexuell genötigt. Seit zwölf Jahren schon gibt es deshalb die Anlaufstelle »Sichere Wiesn«. Übergriffsopfer erhalten dort Beistand.

Das Risiko eines sexuellen Übergriffs steige, wenn Mädchen und Frauen die Fähigkeit zum Selbstschutz verlieren, erklärt die Sozialpädagogin Julia Jäckel: »Etwa, wenn sie den Anschluss an ihre Gruppe von Freunden verlieren und den Weg zum Hotel nicht mehr wissen. Gerade wenn sie ein oder zwei Bier getrunken haben, schlecht Deutsch sprechen und vielleicht der Handyakku leer ist, sind die Frauen im ersten Moment hilflos - und werden leichter Opfer sexueller Gewalt.«

Ein Raum im Gebäude des Servicezentrums zu Füßen der Bavariastatue bietet Zuflucht und Hilfe. »Unser Ziel ist, den Klientinnen in ihrer Notlage zu helfen und einen sicheren Nachhauseweg zu ermöglichen«, sagt Kristina Gottlöber, bei »Sichere Wiesn« für Logistik zuständig. Im Raum gibt es eine Sitzecke zur Beratung, zwei Telefone und Arbeitstische mit Internetanschluss, außerdem stehen Tee und Kaffee bereit.

Den Mädchen und Frauen steht ein mehrsprachiges Team aus fünf Fachfrauen und 45 Helferinnen, meist Studentinnen sozialer oder pädagogischer Fächer, zur Seite. Oft sind sie bis in die frühen Morgenstunden im Einsatz. »Wir haben auch schon bis 10 Uhr morgens eine Klientin in die Klinik begleitet«, sagt Jäckel.

Der Bedarf ist groß: Im Jahr 2013 hat »Sichere Wiesn« 156 Opfer betreut, darunter zwei Vergewaltigungsopfer. Von Jahr zu Jahr wachse die Zahl, die Fälle würden auch beratungsintensiver und zeitaufwendiger. »Das liegt wohl nicht daran, dass mehr Taten stattfinden - sondern dass mehr bedrohte Mädchen und Frauen den Weg zu uns finden«, vermutet Gottlöber.

»Uns fällt alles vor die Füße«, sagt sie. Das können Touristinnen sein, die den Bus verpasst haben und eine Nachtunterkunft brauchen. Andere Frauen sind vor einem Ehestreit geflüchtet oder müssen ihr Handy aufladen, um Kontakt zu ihren Freunden aufzunehmen. 90 Prozent der Hilfesuchenden sind unter 30 Jahre alt. Über ein Drittel kam im vergangenen Jahr aus dem Ausland. An den besucherstarken Samstagen ist die Hilfsstation noch stärker besetzt und öffnet bereits am frühen Nachmittag.

Gegründet wurde die Anlaufstelle vom Institut zur Prävention von sexuellem Missbrauch (AMYNA), der Initiative für Münchner Mädchen (IMMA) und dem Frauennotruf. Hilfe erhält die von der Stadt getragene Aktion von vielen Seiten. Die Taxizentrale IsarFunk stellt ein Taxirufgerät und ein Kontingent an Taxigutscheinen zur Verfügung. Die Wiesnwirte spenden Geld. Dabei wurde die Initiative anfangs belächelt. »In den ersten Jahren haben wir oft gehört: ›Wir haben doch die Polizei!‹«, berichtet Gottlöber. »Doch die kann nur Anzeigen aufnehmen, keine Nachsorge leisten. Auch das Rote Kreuz hat nicht genug Kapazität, um die Opfer länger psychologisch zu betreuen.«

»Eine unschätzbare Hilfe sind auch die Bedienungen«, betont Gottlöber. »Die kriegen Übergriffe mit und schreiten ein.« Genauso wichtig sei die Hilfe der Besucher. Viele Übergriffe könnten verhindert werden, wenn orientierungslose oder in Tränen aufgelöste Frauen rechtzeitig zur Station gebracht werden. dpa/nd

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