Lhagyelo!

Zum 70. Geburtstag des größten Abenteurers unserer Zeit: Reinhold Messner

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Dieser Mann könnte auf jeder Zeitungsseite Stoff sein. Auf Politikseiten als früher Gegner aller Separatisten Südtirols und später als italienischer Grüner im Europaparlament. Auf Wirtschaftsseiten passt er ebenfalls, denn dieser Mann ist reich geworden mit dem Verkauf seiner abenteuerlichen Erfahrungen, er ist ein Vermarktungsstratege erster Güte. Auf Sportseiten würde sich die gigantisch einmalige Körperleistung des Extremathleten ausbreiten, umflankt von Berichten auf der Umweltseite über inständige Bergschutzmühen. Und im Feuilleton nun erfolgt die bündelnde Kennzeichnung von Reinhold Messner als Lebenskünstler - seine vertikalen, horizontalen Touren sind Meisterwerke der Navigation und Spurenarchitektur, seine fünf Bergmuseen auf Südtiroler Höhen (das sechste entsteht gerade) künden vom hohen Niveau einer sinnlich greifbaren Bewahrungskultur, seine Bücher strahlen Erlebnis- und Erzählkraft aus, er selber ist Gegenstand von Filmen (etwa von Werner Herzog) und anderen Porträtwerken. Die Philosophen Wilhelm Schmid und Volker Caysa schrieben ein Buch über Messner - es nimmt dessen Risikosuche als Beispiel dafür, dass jeder Mensch zur Praxis eines lebenswerten Eigeninteresses finden kann.

»Ich fliehe nicht vor der Lächerlichkeit des Daseins, ich gehe auf sie zu.« Denn Berge zu besteigen, ist im Grunde lächerlich. Ist Kampf gegen die eigene Unscheinbarkeit, um sie in Eis und Schnee deutlicher denn je zu erfahren. Der Kopf sehnt sich heiß, der Körper erfriert. Eine gefährliche Dialektik. Über dreitausend Bergfahrten! Der Ausgangspunkt: Pitzack im Villnöß-Tal, Südtirol. Klobige Bergbuckel. Immer im Blick: Viele hundert Dolomitendome, die vor Jahrmillionen von einer unbändigen Kraft emporgestemmt wurden. Stolz und demütig zugleich sind Bauernhöfe an die Hänge gesetzt - gebaut aus Vertrauen in Sonne, Wind, Regen; nur wer mit den Gewalten dieser Berge umzugehen weiß, findet mit ihnen sein Auskommen.

Hier lebten die Messners, eine Lehrerfamilie, neun Kinder. Etwa mit fünf interessiert sich der 1944 geborene Reinhold dafür, »wohin die Wolken verschwinden«. Damit ist das Prüffeld seines Lebens benannt: Wo harte Bauernarbeit den Blick aller zu Boden zwingt, dort stellt sich rasch ins Abseits, wer mit hochfliegenden Träumen auf Gipfel zieht. Und dann ist es eines Tages ein winziger Schritt von der spöttischen Bemerkung der anderen, Messner benehme sich mit seiner Bergsucht wie ein Urlauber, bis zur unumstößlichen Selbsterkenntnis des Belächelten, nurmehr als Fremder im eigenen Land zu gelten. Aus dem studierten Landvermesser und Mittelschullehrer wird der Abenteurer.

Dem Eroberungsbergsteigen hat Messner seinen Verzichtsalpinismus entgegengesetzt. Er wurde der erste Mensch, der alle vierzehn Himalaya-Gipfel über 8000 Meter bestieg. Den Mount Everest bezwang er als Erster ohne Sauerstoffmaske und danach noch im Alleingang. Als Erster durchstieg er die viereinhalbtausend Meter hohe Rupal-Flanke des Nanga Parbat, am gleichen Berg überschritt er als Erster einen Achttausender. Er durchquerte Grönland längs, die Antarktis quer (mit Arved Fuchs), er wanderte durch die Wüste Gobi. Er ist im Alpenstil geklettert, ohne Vorgaben also, ohne fremde Hilfe. Auf Stiegen zu den sichtbaren Enden der Welt hat er die unsichtbaren Enden in sich selbst auszuloten versucht. Ist immer wieder angekommen an neuen Türen ins Ungewisse.

Er blieb stets umstritten wie alles Extreme. Er lebt aus sich heraus, er lebt sich aus, er lebt gut. Er kennt die Häme, und er genießt die Hochrufe. Er überstand Todesgefahren, sein Instinkt ist sein Reichtum. Er verlor am Nanga Parbat seinen Bruder Günter und am Manaslu zwei Freunde. Ehrgeiz trieb ihn, Schuldbehauptungen prügelten ihn. Das Solo als wichtigste Konsequenz einer Wesensart, einer Philosophie: Der Stärkste ist am mächtigsten allein - allein auch mit allen Risiken, allem nötigen Egoismus. Der kein Gegensatz ist zu gegenseitiger Hilfe, aber zu heuchlerischer, ideologiebesoffener »Bergkameradschaft«. Ein Individualist, »vielleicht sogar Autist« (Messner) - das Gängertum als Kunstwerk, als Regiearbeit einzig im Ich-Dienst, es ist dies ein hemmungsloser, selbstberauschter Dienst. Ganz im Geiste Nietzsches: »Die überschüssige Kraft in der Geistigkeit« suchend, »sich selbst neue Ziele stellend; durchaus nicht nur für die Erhaltung des Organismus.«

»Messner« heißt der Kinofilm von Andreas Nickel, der jetzt als DVD vorliegt. Das Wort »Widerstand« kommt früh vor in diesem Film, ein Wort schon aus sehr jungen Jahren. Zum Widerstand reizt viel: der Vater, die Kirche, jede Wand. Nickel verknüpft seine fesselnden Dokumentaraufnahmen mit gespielten Szenen, die den Film ein wenig herabziehen aus jenen grandiosen Höhen und Schluchten und Steiglinien - die nur Kopfschütteln hervorrufen: Warum nur den Tod herausfordern? Wo sind die Saugnäpfe an den Fingern, um sich an den Senkrechten zu halten? Wieso freiwillig in Einsamkeitsnächte aus Eis, Sturm, oben Grauen, unten Grauen?

Man schaut in diesen Film wie ins letztlich Unerklärliche. Denn Messner strahlt etwas aus, das sich jeder Definition entzieht. Der Gipfel liegt nicht oben, der Gipfel, wohin der Sisyphus-Stein zu rollen ist, der »liegt in dir selbst, durchsteig also die Leere«, die steinernen Schwellen im Innern. Immer dem Stein nach, hatten die Träume ihm gesagt, so fand er sich selbst, verstiegen ins Bodenlose, am Ende frei, aber mehr denn je beladen mit sich selbst. Der Satz von Camus, man müsse sich Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen, ist dem Film das Motto. Glücklich sein in Eis und Einsamkeit - dort, wo man »sich meist nur fühlt wie ein ganz armer Hund« (Messner)? Glücklich macht nicht, dass man etwas überstanden hat. Glück stellt sich ein, indem man etwas überstehen muss. Es ist immer zugleich der Moment, da das Glück am weitesten entfernt ist. Paradox. Unbegreiflich. Goethes Faust sagt es so: »Wenn du es nicht erfühlst, du wirst es nicht erjagen.«

Da hat einer Verabredungen mit dem Äußersten, obwohl er doch genau weiß, dass man den ursprünglichen Horizont der Existenz nicht wirklich erweitern kann. Peter Sloterdijk über Messner: »In diesen furchtbaren Ekstasen am Berg, verlassen, dunkel, eisig, aussichtslos, kommt es nur noch darauf an, bis zum Tagesanbruch durchzuhalten. Man sollte das Wort Brüderlichkeit reservieren für Menschen, die wissen, was das heißt.« Messner - ein Leben gegen die Vermassung des Individuellen, denn: Sind wir nicht elend verstreut in einer Niemands-Diktatur? Jeder fremdelt - zum Verwechseln individuell - neben dem anderen her und vor sich hin. Wie da die eigene Würde als Kultur behaupten, unter allen Umständen? »Mein Unterwegssein spiegelt die Zerrissenheit des romantischen Menschen, der von der Sehnsucht nach draußen lebt, wenn er daheim ist, aber der sich nach daheim verzehrt, wenn er draußen ist. Ich bin der Heimatsehnsuchtsverräter.«

Ziemlich am Ende des erwähnten Films kommt der Kailash in Sicht, der tibetische Heilige Berg. Den Messner nie bestieg. »Ich bin ja nicht Milarepa, der Dichter, der auf Sonnenstrahlen hinaufglitt und also den Berg nicht berührte.« Menschen des fernen Ostens würden nie auf die Gipfel steigen; jene Einheit von Geist und Materie, von Denken und Tun, die sie meditativ herstellen, braucht keinen körperlichen Beweis. Sie sind eins mit sich und der Welt. Lhagyelo: Die Götter siegen. So sagen die Tibeter, und sie meinen damit: Was da kommen muss, es kommt. Des Menschen einzige Chance heißt angesichts dessen: Vertrauen in die Kreisläufe der Natur, nicht in unnatürlicher Herausforderung derselben. Von daher weiß Messner, dass der zehrende Gang auf die Berge letztlich problematisch bleibt, ein »Kulturprodukt« westlicher Prägung. Und er weiß: Wer das Heilige der Berge anschaulich vor Augen führt, um Demut zu befördern, um Abstand zu erbeten - der wirkt doch auch unweigerlich daran, just das Stampfen der Bergstiefel zu vergrößern.

Vielleicht ist das die härteste Arbeit, der sich ein Mensch aussetzt: mit all seiner Werktätigkeit zu versuchen, das poetische Niveau der eigenen Träume zu erreichen. Reinhold Messner, der dieser härtesten Arbeit sein Leben widmete, wird an diesem Mittwoch 70 Jahre alt.

»Messner«. Ein Film von Andreas Nickel. DVD 108 Min. Movienet Film. 16,99 €.

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