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»Wir leben in einem Europa der Regionen«

Europa-Experte Poppenhäger: Mehr Unabhängigkeit bedeutet nicht automatisch mehr wirtschaftliche Prosperität

  • Lesedauer: 3 Min.
Holger Poppenhäger (SPD) ist Justizminister in Thüringen und Vorsitzender der deutschen Delegation im Ausschuss der Regionen bei der Europäischen Union (AdR). Der AdR vertritt in Brüssel die regionalen und lokalen Gebietskörperschaften in der Europäischen Union; ihm gehören derzeit 353 Mitglieder und ebenso viele Stellvertreter aus allen 28 EU-Mitgliedsstaaten an. Mit dem SPD-Politiker sprach Uwe Sattler.

Nicht nur Schottland, auch andere Regionen in Europa sehen ihre Zukunft in der Eigenständigkeit. Nehmen die Tendenzen zum Austritt aus nationalstaatlichen Strukturen zu?

In verschiedenen Regionen Europas gibt es aus historischen und kulturellen Gründen seit Jahrhunderten Unabhängigkeitsbestrebungen, wie jetzt beispielsweise in Schottland. Die Europäische Union hat sich den Leitspruch gegeben: »In Vielfalt geeint«. Es ist eine wichtige Herausforderung für Europa, die gewachsenen verschiedenen Identitäten zu vereinen.

Konkret: Wie stellt sich der Ausschuss der Regionen (AdR) zu Unabhängigkeitsbestrebungen von Regionen oder Landesteilen?

Der AdR hat sich im April 2013 in einer Stellungnahme zum Thema »Dezentralisierung in der EU« mit separatistischen Tendenzen befasst. Darin regte der AdR an, Unabhängigkeitsbestrebungen zu beobachten und Ursachenforschung zu betreiben, um akzeptable Lösungen für alle Beteiligten zu finden. Allerdings ist die Entwicklung einer Region in Richtung Unabhängigkeit als eine interne Angelegenheit des jeweiligen Staates anzusehen. Weiterhin geht der AdR davon aus, dass im Falle der Abspaltung ein offizielles Beitrittsverfahren durchgeführt werden müsse, falls diese Region der EU wieder beitreten will. Völkerrechtlich ist dies nicht unumstritten. So vertreten Juristen der Universität Edinburgh die Ansicht, dass bei einer Abspaltung Schottlands vom Vereinigten Königreich die EU-Mitgliedschaft Schottlands nicht automatisch erlischt.

Es sind oft wirtschaftlich starke Regionen, die sich unabhängig machen wollen. Bleiben die schwächeren auf der Strecke?

Es mag sein, dass es öfter vermeintlich wirtschaftlich starke Regionen sind, die in eine Unabhängigkeit streben. Antrieb für den Wunsch nach Unabhängigkeit sind aber meist kulturelle und ethnische Gründe, die historisch gewachsen sind. Gleichzeitig ist es eine Illusion zu glauben, dass es einer Region automatisch besser geht, wenn sie sich in bestimmtem Umfang unabhängig macht. Zudem zeigt die Erfahrung, dass sich eine zuvor wirtschaftlich schwache Region zu einer wirtschaftlich starken Region entwickeln kann und umgekehrt.

Zu berücksichtigen ist auch, dass eine Region im Falle ihrer Abspaltung von einem Mitgliedstaat und einer völkerrechtlich neuen Staatsgründung mühsam und zeitaufwendig eine funktionierende Verwaltung und ein entsprechendes Staatswesen aufbauen muss. Es stellen sich in diesem Fall zahlreiche Probleme, wie etwa die der künftigen Währung. So wird in Schottland derzeit kontrovers diskutiert, ob man im Falle eines Austritts aus dem Vereinigten Königreich den Euro einführen oder das Pfund beibehalten sollte.

Lassen sich die Wünsche nach mehr Selbstständigkeit und größerer Unabhängigkeit von Regionen innerhalb eines Staatsgebildes überhaupt realisieren?

Eine größere Unabhängigkeit von Regionen ist auch in einem einheitlichen konstitutionellen Rahmen grundsätzlich möglich. Solidarität und gegenseitiger Respekt sind Grundpfeiler der europäischen Einigung. Föderale Mehrebenenstrukturen können eine gute Möglichkeit sein, diese Grundprinzipien mit den Forderungen nach mehr Autonomie zu verbinden. Das Verfassungsrecht der einzelnen Staaten setzt hierfür allerdings Grenzen.

Die Bedeutung regionaler Körperschaften in Europa ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen. Muss sich die EU von einem Bund der Nationalstaaten zu einem der Regionen wandeln?

Wir leben bereits in einem Europa der Regionen. Bei Stellungnahmen achtet der AdR verstärkt auf Schlüsselthemen mit Bedeutung für die regionalen und lokalen Gebietskörperschaften. Eine wohlverstandene Dezentralisierung kann die Zufriedenheit der Bürger entscheidend verbessern. Es besteht die Gefahr, dass eine langfristige Verweigerung eines ernsthaften Dialogs zwischen verschiedenen Regierungs- und Verwaltungsebenen sowie die Verweigerung notwendiger finanzieller Ressourcen Forderungen nach Unabhängigkeit Vorschub leisten könnten. Als Vorsitzender der Deutschen Delegation im AdR bin ich der Meinung, dass die regionalen Belange zu berücksichtigen sind, auch um eine weitgehende Akzeptanz der bestehenden Mitgliedstaaten zu erreichen.

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