Träume, Tweets und Tränengas

Hongkongs Studenten sehen die Regierung der Sonderregion als größtes Problem

  • Larissa Lee Beck, Hongkong
  • Lesedauer: 4 Min.
Es geht um ihre Zukunft. Die Studenten in Hongkong fordern echte Demokratie. Die Twitter-Generation sorgt sich, was aus ihr und ihrer Stadt wird. Ein Rückzug kommt nicht in Frage.

Die Studenten fühlen sich von Hongkongs Regierung nicht beachtet, sind frustriert. Aber sie glauben fest daran, dass sie die Zukunft der chinesischen Sonderverwaltungsregion verändern können, wenn sie nur zusammenhalten. Tage anstrengenden Protests liegen hinter den Studenten. Angesichts der angespannten Lage gibt es ein spätabendliches Krisentreffen. Es ist 23 Uhr - jeder Zentimeter der langen Allee auf dem Campus der Chinesischen Universität von Hongkong ist besetzt.

Wer sind sie, diese Studenten? Noch vor ein paar Wochen waren sie nicht so ernst. Da handelten die Gespräche von Auslandssemestern, Partys und den besten Strategien, um sich zeiteffizient durch den Universitätsalltag zu kämpfen. Politik, räumten viele ein, habe sie eigentlich nicht so interessiert. Jetzt verbreiten sie politische Nachrichten, tragen T-Shirts mit dem Aufdruck »Freedom-Now!«.

Die Zusammenstöße zwischen Polizei und Protestierenden, der Einsatz von Tränengas in der Nacht zum Montag hat sie verärgert. Die Ignoranz der Regierung bringt sie in Rage. »Sollten wir aufgeben? - Nein!«, rufen sie selbstbewusst. Mehrmals fällt das Wort Tiananmen. Bei der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 in China waren sie entweder noch Babys oder noch gar nicht geboren. Doch das Massaker um den Platz des Himmlischen Friedens lässt sie nicht los. Dass die Proteste in Hongkong ähnlich blutig enden könnten - davor fürchten sie sich.

»Die Situation ist jetzt einfach zu ernst«, sagt Tsz Chin Chow. Demokratie, Freiheit, allgemeines Wahlrecht - das brauche Hongkong. Die Studentin spricht von sozialen Problemen, der klaffenden Lücke zwischen Arm und Reich. Sie weiß, es geht um ihre Zukunft, um ihren Arbeitsplatz und später auch um das Leben ihrer Kinder. »Das größte Problem ist die Regierung und die schlechte Politik, die sie macht«, sagt die junge Frau. Hongkongs Verwaltungschef Leung Chun-ying habe doch auch Töchter. »Ob er manchmal über deren Zukunft nachdenkt?«

Sie ist schwarz gekleidet - so wie alle anderen. Nur die gelben Schleifen in der Farbe der Aktivisten zeichnen sich wie kleine Lichtblicke von der dunklen Kleidung ab. Wenn Chow an die nahe Zukunft denkt, weiß sie, dass sie nach der Universität mit dem ersten Job nicht einfach von zu Hause ausziehen kann. Die Mieten sind zu hoch. Eine Familie zu gründen ist ziemlich schwer. Den Traum vom eigenen Heim wird sie sich in Hongkong vielleicht nie erfüllen können.

Vor einer Woche hatten sich die Studenten der ehemaligen britischen Kronkolonie genau an dieser Stelle noch im Sonnenschein versammelt, um den Universitätsstreik guter Dinge zu beginnen. Jetzt, bei dem Krisentreffen am Abend, ist es dunkel. Der Diskurs ist aggressiv. Einige sind verletzt, manche weinen. Immer wieder fragen sie sich: »Was ist aus unserem friedlichen, geliebten Hongkong geworden?«

Viele haben sich dem inzwischen auf unbegrenzte Dauer ausgeweiteten Unterrichtsboykott angeschlossen. Trotzdem machen sie sich Sorgen um ihre akademischen Leistungen. Bildung hat für sie einen hohen Wert. »Wir lernen hier an der Universität, um unser Wissen später zum Wohl der Gesellschaft einsetzen zu können«, sagt Fung Sai Kit.

Seine Augen sind vom Tränengas gerötet. Der 19-Jährige hat drei Tage nicht geschlafen, wurde einen halben Tag auf der Polizeiwache festgehalten, weil er in den Civic Square vor dem Regierungssitz vorgedrungen war. Der Platz ist ein Ort für die Bevölkerung. »Doch ohne demokratische Verhältnisse nutzt uns dieses Wissen nichts.«

Beim Krisentreffen tippen die Studenten unentwegt auf ihren Smartphones und Tablets und übersetzen auf Englisch und Spanisch. »Verbreitet unsere Nachricht auf der ganzen Welt«, rufen die Vertreter der Studentenvereinigung ihre Mitstreiter auf. Ihr Ausblick ist international, ihr Horizont geht weit über Hongkong hinaus. Immer wieder müssen sie Kommilitonen bitten, sich nicht mit dem Internet zu verbinden, damit der Live-Stream zu den laufenden Protesten am Finanzdistrikt in Central auch richtig funktioniert. Die Internetverbindung ist überlastet. Ein Like, ein Share, ein Retweet - Netzaktivismus bedeutet dieser Generation Internet viel. Im Sekundentakt versenden sie neue Informationen.

Von China, dem KP-regierten Vaterland und übermächtigen Nachbarn, wissen sie sich abzuheben. Sie sind anders aufgewachsen und wollen anders sein. Manchmal behandeln die Hongkonger die Chinesen, die Neureichen und Touristen, die in Strömen über die Grenze kommen, auch von oben herab. Das repressive politische System in China mobilisiert ihren Widerstand. »Wir wollen unter keinen Umständen ein zweites China sein«, sagt Chow. dpa

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