Eine Frage unserer Maßstäbe

Tom Strohschneider über einen Kommentar im ND vor 25 Jahren, die SED als Antithese eines demokratischen Sozialismus und die aktuelle DDR-Debatte

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 5 Min.

Am 2. Oktober vor 25 Jahren druckte diese Zeitung die moralische Bankrotterklärung der SED ab. Angesichts der Ausreisewelle Abertausender aus der DDR behauptete die Führung der Partei, die eine führende Rolle für sich beanspruchte, die Menschen hätten »sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt«. Dabei war es umgekehrt: Die SED-Führung hatte sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Erich Honecker soll jenen Satz in einen mit dem Kürzel der Nachrichtenagentur ADN versehenen Kommentar hineinredigiert haben, der für viele das Fass zum Überlaufen brachte: »Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.«

Die Bewegung »Demokratie jetzt« hatte knapp einen Monat zuvor zum Ausdruck gebracht, was damals viele umtrieb, auch viele in der SED: »Menschen reiben sich wund an den Verhältnissen, andere resignieren. Ein großer Verlust an Zustimmung zu dem, was in der DDR geschichtlich gewachsen ist, geht durch das Land. Viele vermögen ihr Hiersein kaum noch zu bejahen. Viele verlassen das Land, weil Anpassung ihre Grenzen hat.«

Aus der Utopie eines sozialistischen Versuchs war eine von Willkür und Wirklichkeitsentfremdung geprägte Parteiherrschaft geworden, die zwar unter schwierigen welthistorischen Bedingungen soziale Errungenschaften realisiert hatte, sich aber selbstherrlich noch über jene Regeln hinwegsetzte, die sie selbst geschaffen hatte. Die SED war zur Antithese dessen geworden, was sie sich und der DDR als politischen Anspruch aufgegeben hatte.

Es waren dann jene, die heute vor 25 Jahren erstmals »Wir sind das Volk« riefen, die sich noch für diesen Anspruch interessierten. Es war ein fortschrittliches Aufbegehren in jenem großartigen Herbst 1989. Und man kann es diesem im Grunde linken Aufbegehren nicht vorhalten, dass die Utopie des selbstbestimmten Neuanfangs in bürgerlich-nationaler Einheitseuphorie ersoffen ist - die am 3.10. gefeiert wird wie ein Sieg über die »falsche« Geschichte.

Heute wird wieder darüber diskutiert, wie man diese Geschichte bewertet. Dabei wird bisweilen empört angemerkt, es gehe hier doch einigen bloß oder vor allem darum, die DDR zu delegitimieren. Die DDR als Realität muss nicht mehr delegitimiert werden, sie ist verschwunden nicht zuletzt, weil jene, die in ihr die völlige gesellschaftliche Kontrolle angestrebt hatten, schlussendlich ohne einen Rest Legitimation dastanden. Es war die SED-Führung, die durch ihre Politik die Idee eines anderen, besseren Lebens selbst delegitimiert hat. Dagegen haben sich damals auch viele Mitglieder dieser Partei gewandt und von unten einen schwierigen Prozess der Erneuerung eröffnet.

Wer heute Kritik an den Verhältnissen in der DDR, an Willkür, Unrecht und Unzulänglichkeiten zurückweist, erweist der Idee, die damals vielen den Antrieb gab, sich zu engagieren, keinen Dienst. Es ist richtig: Die DDR wird auch als Chiffre für einen sozialistischen Versuch und also als Symbol der Idee einer Überwindung kapitalistischer Verhältnisse angegriffen. Der Versuch ist aber auch von links aus betrachtet gescheitert, also an den eigenen, demokratisch-sozialistischen Maßstäben gemessen.

Es macht deshalb auch wenig Sinn, auf Kritik an in der DDR begangenes Unrecht mit dem Hinweis zu reagieren, auch in der Bundesrepublik passiere Schlimmes oder überhaupt stelle sich der real existierende Kapitalismus nicht gerade als Verwirklichung von humanistischen, ökologischen, demokratischen und anderen fortschrittlichen Ideen dar. Das ist richtig, es ist die heutige Herausforderung der politischen Linken, dies zu ändern.

Aber die DDR an der BRD zu messen und umgekehrt, fällt noch hinter den berühmten Ulbricht-Spruch zurück, demzufolge man überholen wollte ohne einzuholen - mit anderen Worten: In der DDR hatte man sich andere Maßstäbe aufgegeben, es sollte etwas ganz Neues gelingen, das darin seine Besonderheit finden sollte, nicht darin, dass es besser als die Bundesrepublik war. Es ist eine Frage der Redlichkeit, die Verhältnisse in der DDR und auch ihr Scheitern daran zu messen. Es wird nichts an unserer Niederlage dadurch hübscher, dass man auf die Verheerungen zeigt, die der Kapitalismus hervorbringt.

Richtig ist freilich auch: Die aktuelle Debatte, die um einen einzigen Begriff kreist und in dieser Rotationsbewegung immer mehr an Substanz zu verlieren droht, macht schwer wiegende Fehler der Aufarbeitungskultur seit 1990 sichtbar. Wer die Reflexe und Abwehrmechanismen bemängelt, sollte auch der Frage nachgehen, worin solche Reaktionen ihren Grund haben.

Jahrelang wurde eine DDR-Erzählung nach dem Motto »Alles Stasi, alles Scheiße« staatlich befördert, die aus dem Blickwinkel des eigenen Erlebens von vielen wie ein dauerhafter Angriff auf Biografien verstanden wurde. Dabei geht es nicht um ein paar Leute aus der so genannten Dienstklasse der DDR, um SED-Obere und führende Blockflöten. Sondern um die Erinnerung an ein Leben, das für viele eben nicht aus Entweder-Oder bestand, sondern aus Ja, aber - oder auch: Nein, aber.

Wie weit man bereit war, für eine als gut betrachtete Sache hintenanzustellen, was diese nur als Versprechen in sich trug; wie oft man auf die äußeren Rahmenbedingungen verwies, um eigene Fehler zu begründen; wie viele sich für karrieristisches Mittun und Rückzug in die Nische zugleich entschieden, oder für überzeugtes Engagement im Sinne einer Verbesserung innerhalb der vorherrschenden SED-Politik und gegen sie; wie man damit klarkam, wenn Freunde über erlittene Repressionen erzählten oder Parteimitglieder über den Druck, den sie erfuhren - all diese Fragen finden in uns oft nur widersprüchliche Antworten, manchmal auch keine.

Vor 25 Jahren hatte die SED-Führung weder den Mut noch den politischen Sinn dafür, in der Massenflucht aus der DDR ihre Niederlage zu erkennen. Der beschämende Satz, man solle denen, welche damals ihr Hiersein nicht mehr bejahen konnten, keine Träne nachweinen, markiert die letzte Linie, die übertreten werden konnte. Am selben Tag riefen Menschen auf einer Montagsdemonstration in Leipzig erstmals »Wir sind das Volk«.

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