Der Tom Sawyer von Prenzlauer Berg

Sven Marquardt, Symbolfigur des Berliner Nachtlebens und Fotograf, hat sein bewegtes Leben aufschreiben lassen

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 6 Min.

»Mit seinen Gesichtstätowierungen und den zahllosen Piercings« strahle Sven Marquardt »auch nach Jahren noch jedes Wochenende aufs Neue die einschüchternde Autorität des radikalen Lebensentwurfs aus«, schrieb der »Spiegel«-Redakteur Tobias Rapp vor einigen Jahren in seinem Buch »Lost and Sound«, einer umfangreichen Reportage über die Berliner Techno- und Feierszene. »Leute, die Marquardt kennen, sagen, er sei sehr nett.«

Allgemeine Bekanntheit erreichte der Mann in den vergangenen Jahren durch zweierlei: erstens durch seine Tätigkeit als Fotograf, zweitens als Türsteher der international bekannten und beliebten Berliner Großraumdiskothek Berghain. Entgegen seinem Äußeren, dem auf den ersten flüchtigen Blick etwas Martialisches eigen ist, zeigt er geradezu sanftmütige Züge, sobald er spricht. Tatsächlich ist Marquardt - Jahrgang 1962, geboren in Berlin, Hauptstadt der DDR - durchaus keiner, dem man Vergnügen an der Ausübung von Autorität unterstellen darf. Im Gegenteil.

»Ich will nicht dringend abhauen aus der DDR«, schreibt Sven Marquardt in seiner vor kurzem erschienenen Autobiografie. »Ich fühle mich auch nicht als Revoluzzer. Ich kann es nur nicht leiden, wenn man mir etwas verbietet.« Man kann von dem Mann nicht behaupten, dass er ein Stubenhocker war. Unter anderem war er Angestellter in einem Fotogeschäft, Fotograf für die Frauenzeitschrift »Sibylle«, Dressman beim »VEB Jugendmode«, Angehöriger eines unabhängigen Modedesign-Kollektivs und Verkäufer in einem Schuhgeschäft. Er war in der Queer- und Schwulenszene unterwegs, fand in der Künstlerbohème von Prenzlauer Berg Anschluss, war zeitweise in der Psychiatrie untergebracht. Er war exzessiver Nachtschwärmer, Drogenkonsument, Sexmaniac, Hedonist, Narzisst. Und er war, die Augen dick mit Kajalstift umrandet und einer turmhohen Mohawk-Frisur auf dem Kopf, vor allen Dingen eine Art Glamour-Punk-Boy in einem eher unglamourösen Staat, der DDR. »Es bedeutet eine Menge Arbeit, so auszusehen, dass andere vor einem ausspucken.«

Als die DDR zu existieren aufhörte, war Marquardt 27 Jahre alt, so alt wie Janis Joplin, Jimi Hendrix, Kurt Cobain und Amy Winehouse, als sie starben. Heute ist er 52. Das auf dem Cover der Autobiografie abgebildete, gealterte, teils von Tätowierungen bedeckte, gepiercte sowie mit einem grauen Bart und wucherndem grauem Haupthaar verwachsene Gesicht, das dem Betrachter eine Art einstudierten bösen Blick zuwirft, gehört eben jenem Sven Marquardt. Dass er bis heute eine gewisse Vorliebe für Selbstinszenierung hat, ist offensichtlich. »Ich will gesehen, ich will wahrgenommen werden«, heißt es in seinem Buch.

Liest man seine Lebensgeschichte, die Geschichte eines in den 1970er und 1980er Jahren Heranwachsenden, der aufgrund seiner imposanten Erscheinung und seines Äußeren (schwarze Motorradlederjacke, lackierte Fingernägel, eigenwilliger Schmuck, hochtoupierte Haare) von DDR-Behörden und Polizeibeamten schikaniert und getriezt wird, verfestigt sich der Eindruck, es hier mit einem durch und durch harmlosen, sensiblen, empfindsamen, zu allerlei romantischen Ideen neigenden Jüngling zu tun zu haben, der sich vor allem aus Gründen der jugendlichen Identitätssuche mit Fahrradketten behängt und sich das Gesicht anmalt. Als junger Schwuler und kunstwollender Dropout und Exot, der sich in einer Art exaltiertem Punk-Chic kleidet und dessen Äußeres deshalb nicht »tragbar für das sozialistische Arbeitskollektiv ist«, war Marquardt, wie er selbst schreibt, im realsozialistischen Staat Angehöriger einer »Randgruppe in der Randgruppe«. Doch in der DDR war das Verständnis für Pop, queere Lebensentwürfe und alles, was mit jugendlichen Subkulturen zu tun hatte, traditionell nicht besonders stark ausgeprägt, um es vorsichtig zu formulieren. Wer keine Anstalten machte, sich der kleinbürgerlich-autoritären Zwangsvorstellung von der fleißigen und ordentlich gekleideten »sozialistischen Persönlichkeit« zu fügen, musste mit Repressionen rechnen.

»Der Staatsmacht« seien er und seinesgleichen »ein Dorn im Auge« gewesen, schreibt Marquardt. »Denn wir passen nicht ins erwünschte Straßenbild. Wo immer sie können, gabeln uns Uniformierte auf und drehen uns durch die Fragemühle.« Zeitweise wird ihm aufgrund seines Kleidungs- und Schminkstils gar polizeilich verboten, sich im Bezirk Mitte aufzuhalten. Die Behörden hätten vermutlich Angst gehabt, schreibt Marquardt, »Touristen könnten verschreckt und das Ansehen der DDR beschädigt werden«. Doch damit nicht genug. »Wir alle kriegen den Hass des DDR-Spießers zu spüren. Der drückt uns Sprüche wie ›Euch hätten sie früher alle ins Gas geschickt‹ rein oder haut uns direkt aufs Maul.«

Auch die in Fragen subkultureller Styles und Kleidungscodes offensichtlich vollständig ahnungslose und heillos überforderte Staatssicherheit liefert mit Eintragungen in Marquardts Akte ganz wunderbare unfreiwillige Komik: »Das Aussehen des M. entspricht dem eines Pankers (sic!), d.h. er hat einen wüsten Haarschnitt und bemalt sein Gesicht.« In den harmlosen Aktfotos auf dem Schreibtisch des seinerzeit praktisch mittellosen jungen Fotografen will die Stasi gar einen möglicherweise »pornographischen Charakter« bzw. »Jungs in nazihaften Posen« erkennen. Der Geheimdienst der DDR muss wahrlich unterbeschäftigt gewesen sein, bedenkt man, dass hier die Schreibtischschubladen eines modeaffinen und nächtlichen Vergnügungen gegenüber aufgeschlossenen Jünglings durchwühlt wurden, dessen Hobby das Fotografieren war.

Trotzdem, so stellt Marquardt fest, habe er sich in jener Zeit, den 1980er Jahren in der DDR, »insgesamt frei« gefühlt. »In meiner Erinnerung erscheinen mir diese Jahre eher wie die Abenteuer des Tom Sawyer und nicht wie ein harter, zermürbender Stasi-Unterdrückungsroman.« Marquardt will mit der Erzählung seines so ganz unbürgerlichen, untypischen DDR- und Nachwendelebens auch keineswegs den Alltag im Staat DDR simplifizieren, indem er das eindimensionale, dem gängigen westlichen Klischee entsprechende Bild entwirft - nämlich das der »frustrierten Menschen in Rundstricksachen vor frustrierenden Schrankwänden in frustrierenden Plattenbauten«. Darum geht es ihm nicht. Tatsächlich sind ähnliche Leben wie das Marquardts auch in der BRD und anderen westeuropäischen Staaten gelebt worden, in denen die Sehnsüchte keine anderen waren: »am Ende nicht an einer öden Werkbank stehen oder in einem miefigen Büro sitzen zu müssen«.

Dass Marquardts Autobiografie vom Verlag für eine junge, gelangweilte Leserschaft konzipiert wurde, darauf deuten schon der abgeschmackte, boulevardeske, ranschmeißerische Titel (»Die Nacht ist Leben«) hin und die sich stark am Anekdotischen und Erlebnisaufsatzhaften orientierende Erzählweise. Beim Aufschreiben seiner Lebensgeschichte assistierte Marquardt die einst für den Henri-Nannen-Preis nominierte Journalistin Judka Strittmatter. Vermutlich auch deshalb schleichen sich die handelsüblichen Gemeinplätze ein: »Mich interessiert und fasziniert das Unangepasste.« »Obwohl er nach außen hin ein fröhlicher Mensch war, hat auch er seine traurigen Momente.« »Gerüche sind eben untrennbar mit unseren Erinnerungen verbunden.« »Beim Fotografieren geht es mir um die Erschaffung des Augenblicks, der für den Moment existiert.«

Sieht man davon einmal ab, erzählt Sven Marquardt eine Art Alternativgeschichte der DDR, indem er Zeugnis ablegt von einer verschwundenen Welt, in der Leistungsdruck und die totale Verwertung des Einzelnen noch nicht vollständig das Leben dominierten. So berichtet er davon, dass man auch dort ein - wenn man so will - unangepasstes, »wildes Leben« führen konnte. Er erzählt vom kargen, aber nicht von der Stechuhr getakteten Leben zwischen Matratze und Kohleofen, vom Saufen und Tanzen, vom illegalen Stromabzapfen, vom ziellosen Streunen durch die Parks und Schwulenbars, von Streifzügen durch verlassene Wohnungen und Dachböden im Niemandsland Prenzlauer Bergs, von den Aufenthalten in der Wohnung des Künstlerpaars Ronald und Helga Paris, das ihn protegierte und ihm neue Horizonte öffnete, und von dessen Sohn Robert, mit dem er sich anfreundete.

Sven Marquardt/Judka Strittmatter: Die Nacht ist Leben. Autobiografie. Ullstein-Verlag, 220 S., 14,99 €

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