Herzen haben keine Fenster?

Christoph Marthalers «Tessa Blomstedt gibt nicht auf» an der Volksbühne Berlin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Natürlichkeit ist nur eine Maske der Entfremdung, wer wüsste das besser als Christoph Marthaler. Darum kuriert er uns mit forcierter Künstlichkeit. All unsere Anstrengungen, wir selbst zu sein, enden selbstverständlich jämmerlich. Wir sehen uns nur ähnlich, ohne dass wir es sind. So lautet das Gesetz des Virtuellen, das Marthaler mit «Tessa Blomstedt gibt nicht auf» durchspielt.

Wer ist Tessa Blomstedt und was gibt sie nicht auf - oder anders herum, wer gibt sie nicht auf? Wir werden es nie erfahren, denn bei diesem Abend handelt es sich nach Auskunft des Programmzettels um ein «Testsiegerportal», und zwar um ein ziemlich mieses, geradezu fieses. Das hier zu besichtigende ist die Apokalypse aus der Perspektive des Innenlebens eines Computers. Hat er denn eines? Wenn, dann sieht es so aus wie das hier: zugeschrottet mit Kitsch und falschen Gefühlen, die so echt sind wie eine Vorabendserie wahr.

Wenn man die Volksbühne anruft und in der Warteschleife hängt, dann ertönt zur Überbrückung der Wartezeit immer noch die Melodie aus «Murx den Europäer», dem Marthaler-Volksbühnenhit der 90er Jahre. Da schien man alle Zeit der Welt zu haben, auch wenn man sich und andere mit der zelebrierten Langsamkeit quälte: Entschleunigung hieß (und heißt) das Programm bei Marthaler, das er nun auch auf den Computer lädt. Was dann passiert, kann man durchaus einen Zusammenprall der Welten nennen.

Wer jetzt sagt, er verstehe kein Wort, der ist auf dem richtigen Weg. Denn die Sprache der virtuellen Welt hat mit der, die wir zu kennen glauben, nichts mehr zu tun. Sie simuliert Leben und das ist vielleicht schlimmer als gar nicht zu leben. Und so drängt sich der Verdacht auf, dass dies hier ein Totentanz ist, zu dem unsere virtuelle Selbstenteignung ein unendlich haltbares, also tödliches Lächeln darbietet. Und wieder drängt sich der Gedanke auf, dass unserer medialen Welt der ewigen Wiederkehr immer gleicher Bilder die Fähigkeit zwischen dem, was lebt und dem, was längst tot ist, zu unterscheiden, abhanden kommt. Solange das Programm läuft, leben sie, wenn man den Stecker zieht oder das Programm beim Hoch- oder Herunterfahren havariert, leben sie nicht mehr. Und wir sind plötzlich nicht mehr wie gute Proletarier Anhängsel der Maschine, sondern die von Suchmaschinen wie Google oder Netzmaschinen wie Amazon oder Facebook?

Nun betreten Kekke, Frauke, Heike und Silke die Bühne. Sie gruppieren sich um Helfried an der Heimorgel und singen «Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden.» Natürlich hören sie damit nicht so bald auf, denn dies ist immerhin das Fegefeuer des World Wide Web, mindestens. Da gilt es die Folter fortzusetzen, so lange, bis die hohen Stimmen der zwanghaft dienstleistungsbereit lächelnden Mädels einen Sprung bekommen. Helfried (personifizierter Zeitbruch als Karriereknick: Clemens Sienknecht) hat hier als einziger etwas Authentisches, so heruntergekommen wie er ist sonst keine der Figuren, die uns das Internet als Sendboten des Paradieses darbietet. Lange keinen Hit gehabt, aber immer noch da: Vielleicht ist das ja das Geheimnis, die schöne neue Welt hinterm Touchscreen-Bildschirm zu sabotieren?

Also immer noch mal: «Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden.» Wiederholung des Unvermeidlichen hilft, sich in der Online-Welt einzurichten. Man muss lachen, aber die Sache ist ernst.

Auftritt des «Retrovirus» (bedeutungsvoll gealterter Schleim: Ulrich Voß) in Gestalt eines Conférenciers in rotem Jackett, der im pathostränigem Sprechgesang die Folter natürlich fortsetzt: «Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden.» Welch mühsame Leichtigkeit des Seins, welch leichthinnige Mühen des Nicht-Seins. Alles gleich, alles bloß bunt und ohne Bedeutung. Lieber die Zeit totschlagen als andere Menschen? Man beginnt zunehmend an der befriedenden Kraft derartiger Unterhaltungskunst zu zweifeln.

Marthaler ist immer noch einer der kompromisslos-witzigsten Aufklärer über einen Zeitgeist, der uns suggeriert, er habe etwas mit Zeit zu tun - unserer Lebenszeit. Nein, dieser ganze Lebensersatzstoff ist immer das Gegenteil von dem, was er behauptet zu sein. Es ist das Zuhause der Casting-Shows, der Selbstdarsteller ohne Selbst, der stereotypen Vorstellungen: «Meine Hobbys sind Joggen, Yoga, Lesen, Angeln ...» - Meine Hobbys sind Yoga, Joggen, Angeln und Lesen ...« und das lässt sich noch ein Dutzend Mal variieren, ohne dass sich etwas anderes zeigen würde als das, was die vier Mädels hinter Helfried in Schleife singen: »Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden.« Die Uniformisierung der Welt, von der Stefan Zweig vor über fast hundert Jahren schrieb, sie ist beträchtlich vorangeschritten. Auch das ist Fortschritt?

Irm Hermann, diese große alte, ewig junge, ewig mysteriöse Schauspielerin hier in Symbiose mit ihren Blattpflanzen am Rande der Informationswelt. Aber auch sie bekommt die frohe Schreckensbotschaft aus dem Off (gesprochen vom hinterhältig kulinarisch klingenden Josef Ostendorf): Die Zeiten analoger Floristik sind vorbei. Ab jetzt gibt es nur noch digitale Floristik, den Digitalgarten mit Multi-USB-Stick! Die Installation erfordert 1,5 Hektar-Byte. Man muss Irm Hermanns Weltverwunderung unter negativem Vorzeichen gesehen haben, um den Abgrund zu verstehen, mit dem wir tagtäglich hantieren und dabei inständig hoffen, dass dieser gnädigerweise versäumt uns zu verschlingen. Aber sicher ist das nicht, im Gegenteil.

Wir sind in der Schlager-Horrorshow einen Schritt weiter gekommen, immerhin: »Herzen haben keine Fenster« intonieren Kekke, Frauke, Heike und Silke mitten im Bühnenbild von Anna Fiebrock, das wie eine postmoderne Variation auf Heideggers »Gestell« aussieht, also umgangssprachlich wie abgewrackt mit tieferer Bedeutung. Inkonsequenterweise haben die Herzen zwar keine Fenster, aber dennoch Türen. Das muss man dann sofort installieren, ein Update steht parat und Retrovirus Ulrich Voß kommt herbeigeschlurft, die großen Worte sind immer noch nicht alle.

Nein, heimisch werden wir nicht in dieser auf Wiederholungsterror programmierten Horrorshow der drohend vorgebrachten Glücksversprechen. Oder doch, aber dann ist es die Heimat der Gespenster, jener, die aus unseren Alpträumen kommen und sich im digitalen Biotop prächtig entwickeln.

Tora Augestad, Altea Garrido, Olivia Grigolli und Lilith Stangenberg als Kekke, Frauke, Heike und Silke machen ihre Sache gut - Letztere ist im ramponierten Zustand permanenter Geworfenheit, um bei Heidegger zu bleiben, sogar überaus hinreißend: eine Entdeckung aus lauter Vitalität und Hintergründigkeit knapp vorm Orkus der Online-Ewigkeit. Also jetzt hingehen und dabei sein ohne anschalten zu müssen!

Nächste Aufführung: 25.10.; www.volksbuehne-berlin.de

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