Nichts wird gut am Hindukusch

Westliche Politiker lobten den »ersten friedlichen und demokratischen Machtwechsel« in der Geschichte Afghanistans. Die ISAF-Nachfolgemission »Resolute Support« kann Anfang 2015 starten. Doch in Wirklichkeit besteht zu Optimismus kein Anlass

  • Uwe Krüger
  • Lesedauer: 7 Min.

Es dauerte von Anfang April bis Ende September, ehe in Kabul ein Nachfolger für Staatsoberhaupt Hamid Karsai vereidigt werden konnte. Vorausgegangen waren hektische diplomatische Aktivitäten. US-Außenminister John Kerry nahm Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, die nach der Stichwahl Mitte Juni beide das Präsidentenamt für sich reklamierten, mehrfach ins Gebet. Am Ende half nur die Drohung, die Finanzhilfe für den faktisch bankrotten Staat einzustellen. Das hätte vor allem den 350 000 Mann starken Sicherheitsapparat betroffen. Mit diesem Apparat sind die weiteren Aussichten trübe, ohne diesen könnten die hinter Ghani und Abdullah stehenden Gruppen gleich vor den Taliban kapitulieren. Eine Erkenntnis, die zu einem Kuhhandel führte. Künftig gibt es, von der Verfassung nicht vorgesehen, einen Präsidenten (Ghani) und einen geschäftsführenden Premier (den Abdullah ernennen darf). Unklar ist, wie die als Regierung der nationalen Einheit verkaufte Doppelherrschaft funktionieren soll. Auf beiden Seiten herrscht großes Misstrauen.

Der 65-jährige Ghani steht vor mehreren unlösbaren Aufgaben. Das monatelange Gezerre um den Wahlausgang verschärfte die wirtschaftliche Talfahrt. Ausländische Investoren hielten sich noch mehr zurück. Hinzu kamen die durch den Abzug der internationalen Truppen verbundenen Einbußen. Zehntausende afghanische Ortskräfte, die als Dolmetscher, Serviceleute oder in anderer Verwendung für die International Security Assistance Force (ISAF) gearbeitet hatten, verloren ihren Job. Die ISAF-Stärke betrug auf dem Höhepunkt des Einsatzes 2010/2011 rund 132 400 Soldaten, Anfang Oktober 2014 waren es noch 34 500.

Die Bevölkerung des Landes wächst jährlich um eine Million. Schon jetzt liegt die Arbeitslosigkeit bei 40 Prozent. Zugleich ist eine stabile Regierung, die entschlossen das Hauptübel Korruption bekämpft, nicht in Sicht. Damit fehlt weiter das Vertrauen im In- und Ausland auf eine Wende zum Besseren. Ghani beschäftigte sich zwar beruflich bei Weltbank und UNO mit dem Wiederaufbau gescheiterter Staaten. Als Finanzminister (2002 bis 2004) und in weiteren wichtigen Funktionen setzte er jedoch in seinem Heimatland keine Impulse, um Armut und Unterentwicklung zurückzudrängen.

Für einen Neuanfang am Hindukusch wäre eine durchgängig verbesserte Sicherheitslage nötig. Tatsächlich demonstrieren die Aufständischen mit einem veränderten Vorgehen wachsendes Selbstbewusstsein - weg von einer Guerillataktik, hin zum offenen Gefecht. Während die ISAF bislang im gesamten Jahr 2014 (Stand 31.10.) 68 Soldaten verlor, sterben bis zu 100 afghanische Soldaten wöchentlich bei Kampfhandlungen in 32 der 34 Provinzen. Schwer unter Druck steht ebenfalls die Polizei, bei der nach Schätzungen jeder vierte Ordnungshüter das erste Jahr im Dienst nicht überlebt.

Bei dieser Konstellation sind Appelle an die Regierungsgegner, sich an einem politischen Dialog zu beteiligen, ein Beleg der Hilflosigkeit. Die Taliban haben sich an der Präsidentschaftswahl weder beteiligt noch diese anerkannt. Ghani und Abdullah werden als Marionetten der USA betrachtet, die mit einem neuen Sicherheitsabkommen den Weg für weitere ausländische Besatzung ebneten. Als inakzeptabel betrachten die radikal-islamischen Kräfte, dass Ghani mit einer libanesischen Christin verheiratet ist. Die Taliban registrierten darüber hinaus, dass der Paschtune Ghani mit dem berüchtigten Usbeken-General Abdul Rashid Dostum ein Zweckbündnis einging, um andere wichtige ethnische Gruppen einzubinden. Der für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortliche Warlord war ein führender Vertreter der hauptsächlich aus Tadshiken und Usbeken bestehenden Nordallianz, die den von Paschtunen getragenen Taliban in den 90er Jahren erbitterten Widerstand entgegensetzte. Dostums Aufstieg zum Vizepräsidenten wirft nicht nur einen Schatten auf den angeblich ersten demokratischen Machtwechsel, sondern erschwert einen Dialog zusätzlich.

Afghanistan hat 30 Millionen Einwohner. 42 Prozent sind Paschtunen, die die größte Volksgruppe stellen. Daraus leitet sich seit Jahrhunderten der Anspruch ab, in Kabul das Zepter zu schwingen. Aus diesem Grunde sollte Abdullah Abdullah, mit einem Paschtunen als Vater und einer Tadshikin als Mutter, nicht das oberste Staatsamt bekleiden. Abdullah, der sich in den 80ern dem antisowjetischen Widerstand anschloss, eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Taliban spielte und nach deren Sturz von 2001 bis 2006 Außenminister unter Karsai war, wurde stets als nicht mehrheitsfähiger Mann des Nordens abgestempelt. Der 54-jährige promovierte Augenarzt erreichte bereits bei der Präsidentschaftswahl 2009 die Stichwahl gegen Karsai, trat aber wegen massiven Wahlbetrugs in der ersten Runde nicht noch einmal an.

Ein regulärer Urnengang fand auch 2014 nicht statt. Von acht Millionen Wahlkarten sollen mehr als zwei Millionen manipuliert gewesen sein. Davon profitierte in der Stichwahl am 14. Juni offenbar vor allem Ghani, nachdem sich Abdullah aufgrund des Vorsprunges in der ersten Runde am 5. April berechtigte Hoffnungen auf den Einzug in den Präsidentenpalast machen konnte.

Am 20./21. September besiegelten Ghani und Abdullah schließlich die Bildung einer Einheitsregierung. Diese wiederum unterzeichnete am 30. September ein Sicherheitsabkommen mit USA und NATO. Die Abkommen galten als Voraussetzung für den Verbleib internationaler Truppen am Hindukusch. Das Tauziehen darum begann nach dem NATO-Gipfel am 20./21. Mai 2012 in Chicago. Die Allianz beschloss, dem Abzug aller Kampftruppen bis Ende 2014 ab Anfang 2015 eine deutlich verkleinerte Ausbildungs- und Beratungsmission folgen zu lassen. Die Verhandlungen zwischen Washington und Kabul gestalteten sich nicht zuletzt wegen des zerrütteten Verhältnisses zwischen US-Präsident Barack Obama und Karsai schwierig.

Zentraler Streitpunkt war die von Obama geforderte Immunität amerikanischer Soldaten vor Strafverfolgung in Afghanistan. Um Druck auszuüben, schloss das Weiße Haus Anfang 2013 erstmals einen Komplettabzug der Streitkräfte bis Ende 2014 nicht aus. Washington und Kabul einigten sich schließlich Ende November 2013 auf ein Sicherheitsabkommen. Die USA behielten das »exklusive Recht zur Jurisdiktion« über ihre Soldaten im Auslandseinsatz. Karsai überließ jedoch die Unterzeichnung des Papiers seinem Nachfolger. Die NATO hatte somit keine Planungssicherheit für die neue Mission.

Parallel dazu entbrannte zwischen politischer und militärischer Führung in den USA ab Herbst 2012 eine Auseinandersetzung über die Ausgestaltung der Mission. Führende Generale forderten die Entsendung von bis zu 30 000 Soldaten für einen längeren Zeitraum, um Ausbildung, Selbstschutz und Terrorismusbekämpfung sicherzustellen. Obama neigte dazu, maximal 10 000 Soldaten zu schicken. Endgültige Klarheit über Umfang und Dauer des US-Engagements herrschte erst Ende Mai 2014. Obama kündigte an, dass ab Anfang 2015 noch 9800 US-Soldaten in Afghanistan verbleiben würden, diese Zahl bis Ende 2015 noch einmal halbiert und spätestens zum Abschluss seiner zweiten Amtszeit Anfang 2017 der Einsatz beendet werde.

Der US-Präsident stellte die Verbündeten damit vor vollendete Tatsachen. Die Bundesregierung lobte zwar die Mitteilung Obamas, intern herrschte jedoch Verwunderung über die Hast, mit der das amerikanische Militär zunächst verkleinert und dann ganz abgezogen werden soll. Noch im April 2013 war der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière mit einem sogenannten Speichenmodell und einem konkreten deutschen Personalangebot von 600 bis 800 Soldaten vorgeprescht. Danach sollte Kabul die »Nabe« sein und vier Speichen in die strategisch wichtigsten Gebiete im Norden, Westen, Süden und Osten gehen. Das Modell war auf zwei Jahre befristet, anschließend der Einsatz einzig in Kabul mit dann 200 bis 300 Bundeswehr-Soldaten vorgesehen. Diese Pläne sind nach Obamas Vorgaben obsolet. Die großspurig »Resolute Support« (entschlossene Unterstützung) genannte Ertüchtigungsmission findet im Schnelldurchlauf statt. Ab Anfang 2016 wird nur noch in Kabul und nicht mehr in der Fläche ausgebildet. Deutschland, das wieder Führungsnation im Norden sein will, muss bis Ende 2015 sein Camp Marmal nahe Mazar-i-Scharif aufgeben. Von den zunächst für »Resolute Support« vorgesehenen 12 000 Soldaten werden lediglich zehn Prozent für die eigentliche Ausbildungs- und Beratungsmission zur Verfügung stehen. Das Gros bilden Kampftruppen für Selbstschutz und Logistikeinheiten. Dieses Kontingent wird nicht annähernd ausreichen, um die desolaten afghanischen Sicherheitskräfte wirksam zu unterstützen. Bei der 195 000 Mann starken Armee kommen zu den eklatanten Defiziten bei der Ausbildung und komplexen Operationsplanung fehlende Aufklärungs-, Pionier- und Artilleriekräfte sowie unzureichend ausgebildetes Personal für Luftwaffe und Lufttransport. Der innere Zustand der Streitkräfte ist gekennzeichnet von Günstlingswirtschaft, ethnischen Spannungen, extremer Fluktuation, Korruption und Analphabetentum. Weder die USA noch andere wichtige Staaten haben sich zu einer langfristigen Finanzierung von Armee und Polizei bekannt; die jährlichen Kosten der westlichen Geldgeber dafür liegen derzeit bei 4,1 Milliarden Dollar.

Die afghanische Führung muss sich deshalb nicht nur mit den Nachbarn Pakistan und Iran arrangieren, sondern auch neue Verbündete finden. Seine erste Auslandsreise führte Präsident Ghani am 28. Oktober nach Peking. China bietet sich als Nachbar und Wirtschaftsmacht zwar für eine engere Zusammenarbeit an, aber ein militärisches Eingreifen steht nicht zur Debatte. Eine pragmatische Linie wird gegenüber den Taliban verfolgt. China hätte kein Problem mit deren Rückkehr an die Macht, wenn der weitere Zugang zu den Bodenschätzen am Hindukusch gesichert bliebe und eine Unterstützung der separatistischen Uiguren in der Westprovinz Xinjiang unterbliebe.

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