Alarm im Darm

Glutenfreie Ernährung ist eine Mode, sagen Experten. Trotzdem haben einige Menschen Probleme mit dem Eiweiß

  • Michael Brendler
  • Lesedauer: 5 Min.
Weniger Kalorien, weniger Gesundheitsbeschwerden, weniger Falten - immer mehr Menschen setzen auf glutenfreie Kost. Zu Recht?

Das Weizen manchen Menschen schlecht bekommt, fiel als erstem dem niederländischen Kinderarzt Willem Karel Dicke auf. Der wunderte sich nach dem zweiten Weltkrieg, als einige seiner Patienten, die während der Brotrationierung unter der deutschen Besatzung noch gesundheitlich aufgeblüht waren, sich nach dem Krieg plötzlich wieder viel schlechter fühlten. Kaum hatten die amerikanischen Soldaten damit begonnen, Backwaren unter den Holländern zu verteilen, klagten seine Kranken wieder über Bauchweh und Durchfall.

Dicke hatte damit ein seit mehr als 1500 Jahren offenes Rätsel gelöst. Für die geheimnisvolle Krankheit Zöliakie, auf die der griechische Arzt Aretaeus von Kappadokien bereits im zweiten Jahrhundert nach Christus gestoßen war, gab es einen einfachen Grund: Das Immunsystem der Betroffenen reagierte allergisch auf Weizen, genauer gesagt auf das in ihm enthaltene Klebeprotein Gluten, wie der Mediziner später präzisierte.

Inzwischen meinen viele Menschen jedoch, dass selbst der niederländische Kinderarzt etwas übersehen haben könnte. Auch sie haben das Gefühl, dass ihnen das Gluten nicht bekommt und leiden, obwohl keine Zöliakie bei ihnen festzustellen ist, unter Symptomen wie Bauchschmerzen, Durchfällen, Blähungen und sogar Müdigkeit und Kopfschmerzen. Bis zu 15 Millionen Bundesbürger könnten pessimistischen Zeitgenossen zufolge unter dieser sogenannten Glutensensitivität leiden.

Mit dem Gluten ist etwas auf unserem Teller gelandet, an dem sich unser Verdauungstrakt die Zähne ausbeißt. Ein Protein, wie Peter Köhler von der Deutschen Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie in Freising erklärt, das sich in der Pflanzenzelle als Nährstoffspeicher für bestimmte Aminosäuren bewährt, im menschlichen Darm jedoch den Verdauungsenzymen ihre Grenzen aufweist. Weil sie das Gluten nicht vollständig zerlegen können, bleiben Eiweißbruchstücke zurück. Bei einem von 270 Deutschen mit der verhängnisvollen Folge, dass ihr Immunsystem das Auftauchen dieser Häcksel als feindliche Attacke interpretiert und zusammen mit den Glutenresten die eigene Darmwand attackiert. Einem Zöliakie- oder Spruekranken wird deshalb von Ärzten zur absoluten Glutenabstinenz geraten.

Amerikanischen Superstars wie Lady Gaga, Gwyneth Paltrow und Miley Cyrus bewerben den Verzicht auf Gluten sogar als Kur für Gesundheit, Schönheit und ewige Jugend. Kein Wunder, dass glutenfreie Produkte voll im Trend liegen und mit zweistelligen Zuwachsraten die Supermarktregale füllen - obwohl nur einer von vier Käufern dieser Produkte tatsächlich eine Zöliakie hat. Zumindest in einem Punkt gibt die Wissenschaft inzwischen den Käufern recht: Die Glutensensitivität ist kein reines Hirngespinst von Hypochondern. «In meine Sprechstunde kommen viele Patienten, die auf eine glutenfreie Ernährung sehr positiv reagieren», sagt zum Beispiel Stephan Vavricka, der Leiter der Abteilung für Gastroenterologe am Stadtspital Triemli in Zürich. 2011 zerstreute die australische Forscherin Jessica Biesiekierski letzte Zweifel, als sie in einer Studie bewies, dass es Glutensensitiven nach dem Verzehr glutenhaltigen Brotes schlechter geht als nach dem Genuss von Produkten, die das Eiweiß nur scheinbar enthalten.

Gründe, die diese Symptome erklären, konnte jedoch weder Biesiekierski noch irgend jemand anderes entdecken. Manche Untersuchungen legten nahe, dass Entzündungsprozesse im Darm der Auslöser seien könnten, andere wiederum belegten das Gegenteil. Es gibt Studien, die Glutensensitivität als leichtere Form der Zöliakie entlarven und Ergebnisse, die genau das zu widerlegen scheinen. In der Regel finden sich auch keine Untersuchungs- oder Laborparameter (wie die für eine Allergie oder Zöliakie typischen Antikörper), die helfen könnten, den Glutensensitiven vom Nicht-Sensitiven zu unterscheiden. «Eine Glutensensitivität bleibt eine reine Ausschlussdiagnose», sagt der Schweizer. «Ich schließe aus, dass es eine Allergie ist, ich schließe aus, dass es eine Zöliakie ist - wer dann noch übrig bleibt, der ist eben glutensensitiv.»

Erschwerend kommt der Faktor Psyche hinzu. Gerade bei Menschen mit einem empfindlichen Darm sei der Placebo-Effekt oft enorm, sagt Reiner Ullrich. «Manche Studien zeigen: Wenn man Menschen, die unter glutenfreier Diät beschwerdefrei wurden, anschließend angeblich glutenhaltige tatsächlich aber glutenfreie Testnahrung gibt, bekommt die Hälfte von ihnen trotzdem Beschwerden.» Die US-Gesundheitsbehörde FDA geht davon aus, dass nicht jeder fünfte, sondern höchstens jeder 200. Amerikaner an einer echten Sensitivität leidet - in Europa scheinen die Werte ähnlich niedrig zu liegen. Inzwischen deutet sich sogar an, dass das Gluten möglicherweise sogar zu Unrecht verdächtigt wird. So legte Jessica Biesiekierski, die dem Beschwerdebild einst zu seinem wissenschaftlichen Durchbruch verholfen hat, 2013 eine Studie vor, die alles auf den Kopf zu stellen scheint. Sie gab ihren 37 Versuchspersonen nicht nur glutenfreie Kost sondern auch weniger vom Darm schlecht resorbierbare und blähende Kohlenhydrate, sogenannte Fodmaps, weniger Milchprodukte und Lebensmittelchemikalien, achtete auf Kalorien- und Ballaststoffzufuhr. Das Ergebnis: Egal ob sie nach der Diät unwissentlich glutenreiche, glutenarme oder gar glutenfreie Kost bekamen - den angeblich glutensensitiven Patienten ging es immer gleich schlecht.

Eine mögliche Erklärung hat Detlef Schuppan. Der Gastroenterologe von der Uniklinik Mainz geht davon aus, dass nicht das Gluten hinter der Krankheit steckt, sondern ein anderer Getreideinhaltsstoff, die sogenannten Alpha-Amylase/Trypsin-Inhibitoren, kurz ATIs. Verdauungsenzymbremsen, mit denen sich die Pflanzen eigentlich vor Insektenfraß schützen. Weil man in den vergangenen Jahrhunderten bei der Zucht auf besonders standhafte Pflanzen geachtet habe, so die Theorie des Experten, habe der ATI-Gehalt gerade im Weizen besonders zugenommen - im Gegensatz übrigens zum Glutengehalt. «Im menschlichen Körper wirken diese Verbindungen als eine Art Immunstimulatoren», so der Professor. Indem sie den Teil des menschlichen Abwehrsystems anregen, der ungezielt, aber schnell auf fremde Eindringlinge reagiert, drücken sie auch bei vielen anderen immunologischen Prozessen aufs Gaspedal - etwa indem sie eine schwache Lebensmittelunverträglichkeit in eine starke Darmreaktion umwandeln.

Der Züricher Stephan Vavricka vermutet wiederum, dass die Glutensensitiven nicht so sehr auf das Eiweiß empfindlich reagieren, sondern allgemein Probleme mit blähenden Substanzen haben. Zu denen gehören nicht nur Fodmaps und Ballaststoffe, sondern auch das Weizenprotein. «Wahrscheinlich werden wir in zehn Jahren diese Krankheit nicht mehr Gluten-Sensitivität nennen, sondern als generelle Nahrungsmittelunverträglichkeit auf blähende Substanzen bezeichnen.» Patientenstudien sollen bald für mehr Klarheit sorgen. Bis deren Ergebnisse vorliegen, steht bislang nur fest: Ein Jungbrunnen für Körper, Geist und Seele ist die glutenfreie Diät nicht. «Das ist bloß eine Modeerscheinung, die aus den angelsächsischen Ländern zu uns herüberschwappt, sagt der Berliner Reiner Ullrich. »Wissenschaftliche Belege für einen Nutzen bei Gesunden gibt es einen keinzigen.«

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