Geschlecht ins Bild gesetzt

Chloé Cruchaudets »Das falsche Geschlecht«, Graphic Novel über einen Weltkriegsdeserteur, der zum Transvestiten wird

  • Ralf Hutter
  • Lesedauer: 4 Min.

Was macht den Wert einer Bildergeschichte aus? Diese Frage stellt sich, weil sich in Deutschland seit einigen Jahren die »Graphic Novel« immer stärker in den Vordergrund drängt. »Grafische Romane«, so die Übersetzung, hat es auch früher gegeben - nur wurden »Comics«, so der damalige undifferenzierte Sammelbegriff, von Verlagen, Presse und an Romanen interessiertem Publikum nicht in einer Liga mit hochwertigen Romanen gesehen.

Heute ist das anders. Nicht nur werden literarische Klassiker längst (quasi kindgerecht) als Comics rausgebracht. Der Verlag Suhrkamp hat sogar schon gezeichnete Versionen eigener Titel selbst in Auftrag gegeben. Unter dem Werbebegriff »Graphic Novel«, den in der Branche vermutlich kaum jemand ernst nimmt, hat sich das Angebot gezeichneter Romane vervielfacht. Verlage und Buchläden haben ihr Angebot um diese Sparte erweitert.

Doch worin liegt der Gewinn der (nicht einmal immer bunten!) Bildchen? Das Schöne an Romanen ist ja gerade, dass sie die Fantasie anregen, dass wir uns das Geschehen in unseren eigenen Bildern vorstellen können. Dass ein Romanstoff oder auch ein Sachbuch (auch das hat stark zugenommen) als Bildergeschichte erscheinen, muss umso mehr durch die grafische Qualität gerechtfertigt sein, als der grafische Roman deutlich teurer ausfallen muss und viel schneller fertig gelesen ist.

»Das falsche Geschlecht« von Chloé Cruchaudet gehört nicht zu jenen Büchern, die im Zuge des Graphic-Novel-Hypes veröffentlicht werden. Das Buch hat neben einigen anderen französischen Preisen auch den diesjährigen Publikumspreis auf Europas größtem Comic-Festival in Angoulême erhalten. Es dürfte sowohl die besondere und in Grundzügen wahre Geschichte als auch die zeichnerische Kreativität der 1976 geborenen studierten Zeichnerin Cruchaudet sein, die das Werk so beliebt gemacht haben. Vielleicht aber liegt der Erfolg auch daran, dass dieser Stoff besser als andere die Vorzüge des grafischen Romans zur Geltung bringt.

Der Erste Weltkrieg, dem der junge Franzose Paul entflieht und seine damit verbundenen Halluzinationen sind gute Vorlagen für eine Bebilderung. Es ist aber vor allem die gekonnt ins Bild gesetzte Wandlung eines Mannes zur Frau, die Cruchaudets grafischen Roman als solchen interessant macht. Um als gesuchter Deserteur unter die Leute gehen zu können, verkleidet Paul sich nach einer Zeit als Frau, wodurch er nicht nur eine neue Identität annimmt, sondern auch eine neue Subjektivität entwickelt.

Als seine Frau Louise, die für beide den Unterhalt verdienen muss, dem frustrierten erzwungenen Stubenhocker im Streit das Kleid an den Kopf wirft, weil sie nicht wieder Wein für ihn holen will, guckt der sich damit im Spiegel an und beschließt, ein Experiment zu wagen. Drollig, wie er in weißer Unterwäsche die schwarzen halterlosen Strümpfe seiner Frau bis auf die Oberschenkel hochzieht. Schnurrbart abrasiert, Brust ausgestopft und ab geht es mit Hut und Schal auf die Straße. Nach der Enthaarung von Gesicht, Brust und Nase sowie anderen kosmetischen Maßnahmen kann Paul als Louises Mitbewohnerin wieder am öffentlichen Leben teilnehmen und von ihr Lektionen in »Doing Gender« erhalten. Geschlecht ist immer auch an Alltagspraktiken gebunden. Wäre nicht Pauls große Nase, ließe er sich in manchen Bildern kaum von seiner Frau unterscheiden. Als Suzanne führt er dann ein durchaus erfolgreiches Leben als Näherin und (bi)sexueller Abenteurer.

Wie sehr sich diese Identität festgesetzt hat, zeigt sich erst, als nach zehn Jahren die Amnestie für Deserteure erlassen wird und Paul wieder Paul sein will. Zwischen den beiden Lebensentwürfen hin und her gerissen, gerät er in eine Persönlichkeitskrise, die auch zur Distanzierung von seiner Frau führt. Sein zweites Ich Suzanne sucht ihn, der nun auch als Mann auf feinen Stoff und das extrem kleine Portemonnaie steht, heim, nach einer Zeit sogar gemeinsam mit den Bildern von der Front. Es kommt zur Katastrophe.

Das Buch ist rundum gelungen: Die Geschichte ist nie langatmig und auch zeichnerisch sehr gut und, obwohl nur vierfarbig, abwechslungsreich umgesetzt. Cruchaudets halbrealistischer Stil ist geprägt von Schraffuren. Auf einigen der überwiegend unregelmäßig gestalteten Seiten bringt die Autorin sogar einige regelrechte Bewegungsstudien großflächig unter.

Ein großes und ein kleines Manko gibt es aber. Erstens: »Das falsche Geschlecht« ist in der deutschen Übersetzung ein unpassender Titel, denn dass eines der beiden Geschlechter, zwischen denen Paul nicht zu entscheiden vermag, das falsche wäre, das andere hingegen das richtige, wird von der Geschichte nicht gedeckt - vielmehr scheint er sich als erklärter, ja geradezu öffentlicher Transvestit am wohlsten zu fühlen. Der Originaltitel »Mauvais genre« ist in beiden Bestandteilen mehrdeutig und bedeutet beispielsweise auch »schlechtes Benehmen«, was hier sicherlich in Anspielung auf die im Buch deutlich werdende Haltung der Mehrheitsgesellschaft mit gemeint ist.

Zweitens: Es ist schade, dass der in weiten Teilen erfundenen Geschichte keine Informationen zum historischen Vorbild beigegeben wurden, das erst 2011 durch das Buch »La garçonne et l'assassin« bekannt wurde. Die Geschichte von Paul, Louise und Suzanne stellt die vorherrschende binäre Vorstellung von Geschlechtsidentität in Frage - gerade auch als Bildergeschichte.

Chloé Cruchaudet: »Das falsche Geschlecht«, Avant, gebunden, 160 S., 24,95 €.

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