Für ein besseres Leben in den Favelas

nd-Soliaktion: Grupo AdoleScER arbeitet in Brasilien mit innovativem Ansatz in den Armenvierteln von Recife

  • André Fidelis und Christina Schug, Recife
  • Lesedauer: 6 Min.
Auch in Brasilien ist die sogenannte Gentrifizierung ein bekanntes Phänomen: Bewohner werden aus ihren angestammten Vierteln verdrängt. Die Grupo AdoleScER hält in Recife dagegen.

Das Leben in den Armengemeinden (Favelas) von Recife ist von Drogen und Gewalt geprägt. Zum Teil sehr zentral gelegen werden die Bewohner immer öfter von Immobilienhaien vertrieben. Um ein Shoppingzentrum oder Hochhäuser für die Oberschicht zu bauen, werden Hunderte von Häusern der Ärmsten abgerissen, der Großteil der Bewohner vertrieben. Das ist einfach, weil die Ansiedlung ursprünglich illegal war. Diese Menschen flüchten in andere, weiter entfernt liegende Favelas. Dort bauen sie Behausungen aus Holz, Wellblech und rohen Ziegeln entlang der Flüsse von Recife: Bedroht von regelmäßigen Überschwemmungen, ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser oder funktionierendem Abwassersystem und ständig der Willkür der städtischen Polizei ausgesetzt. Für viele Jugendliche sind Drogen der einzige «Weg aus dem Elend.

In diesem Umfeld agiert Grupo AdoleScER in vier Favelas. Mit der Erfahrung aus 14 Jahren Jugendarbeit und Gesundheitsbildung konzentriert sich AdoleScER seit dem vergangenen Jahr auf die neue Methode »Tratamiento Comunitário« (Gemeindebehandlung) durch Jugendliche und Kinder. Dies ist ein innovativer Ansatz, der in Kolumbien entwickelt und von AdoleScER an die brasilianische Realität angepasst wurde. Die zentrale Idee: Um den Teufelskreis von Drogen und Gewalt zu durchbrechen, reicht es nicht, die Symptome zu bekämpfen. »Wir setzen an der gesamten Gemeinde an. Nur wenn sich die Gemeinschaft ändert, kann auch das ganze System sich wandeln«, erklärt Projektkoordinatorin Daniela Araújo. Dazu arbeitet die Organisation eng mit den öffentlichen Schulen zusammen: Mit der Methode der »Zone der Schulorientierung« setzen sie bei den Jugendlichen an, die als Multiplikatoren und Wissensträger ihre Freunde, Familien und das gesamte soziale Umfeld beeinflussen.

»Ich tue anderen nichts an, was ich nicht möchte, dass sie mir antun«, ruft der 13-jährige Rodrigo mit lauter Stimme. Mit starrem Blick, in schwarzem T-Shirt und Jeans steht er in der Mitte vor einer Linie von zehn weiteren Jugendlichen, die genauso gekleidet sind. Er tritt zurück in die Reihe und die zwölfjährige Ingrid tritt vor, wiederholt den gleichen Satz. Rund fünfzig Jugendliche sitzen in einem Kreis auf der Wiese im Park Santana im Schatten der Mangobäume und verfolgen gespannt ein Theaterstück der Jugendgruppe aus Santa Luzia. Es geht um Gewalt, sowohl physisch, als auch verbal, um Mobbing, um Freundschaft und Überwindung von Vorurteilen. Das Theaterstück wurde während der Fortbildung zum Thema Drogen entwickelt.

Es geht weiter mit dem Thema Vorurteile: »Was denken die Leute über eure Favelas?«, fragt Pädagoge André Fidelis die Gruppe nach der Aufführung. »Sie sagen in Caranguejo gibt es nichts Gutes - und dass es hier nur Drogen gibt«, bekommt er als Antwort. Dies seien soziale Vorurteile, erklärt der Pädagoge und bittet die Jugendlichen nun mal darüber nachzudenken, ob sie die gleiche Ansicht haben. Prompt entsteht Tumult, alle rufen durcheinander: »Nein«, »Wir haben vier Parks«, »Unsere Schule ist wirklich gut« und »Die meisten Krebse, die in teuren Restaurants serviert werden, kommen hier aus Caranguejo, wusstet ihr das?« Mit diesem Gespräch versucht Fidelis den Blickwinkel der Jugendlichen zu verändern. Was alle sagen, muss nicht immer richtig sein. Arbeit mit sozialen Vorurteilen ist ein zentraler Bestandteil der Methode der Gemeindebehandlung.

Diese Methode hat verschiedene Bestandteile, die anwendet und durchführt. Da der Fokus auf Jugendlichen mit Führungspersönlichkeit liegt, hat das Team in den Gemeinden erst einmal nachgeforscht, welche Jugendlichen das genau sind: Sie sollten auffallen und andere beeinflussen können - und es müssen nicht unbedingt Einserschüler sein. In jeder der Gemeinden wurden Gruppen von zehn bis 15 Jugendlichen gebildet, die durch das Team und die Erzieher zu sozialen Akteuren ausgebildet werden. Basierend auf der Peer-Education-Methode - Lernen von und mit Gleichaltrigen - lernen sie über Prävention und Umgang mit Drogen, Gewalt, Umwelt, Vorurteilen und vielem mehr, was ihre Realität betrifft.

Ein weiterer Baustein ist die Erhebung über die Situation der Gemeinde mit der Methode und den Instrumenten der strategischen Diagnostik »SiDiEs«: Bevor man die Schule oder Gemeinde »behandeln« könne, müsse man sie erst kennenlernen. Identifiziert werden die Geschichte, Netzwerke, wichtige Akteure, Aktivitäten und vor allem zentrale Probleme.

Auf dieser Basis werden nun gemeinsam mit den jugendlichen Führungspersonen und sozialen Akteuren speziell für jede Gemeinde Interventionsprojekte erarbeitet und umgesetzt. Im Laufe dieser Prozesse sollen verschiedene Akteure der Schule und Gemeinde integriert werden - um die Wirkung zu steigern.

Auch wenn die Methode erst mal trocken klingt - AdoleScER hat die Kompetenz der spielerischen Vermittlung, zum Beispiel wenn es um unser Ressourcennetzwerk geht. »Ich bringe den Kuchen mit, du kannst gut kochen und machst die Feijoada, Thiago hat einen Getränkeladen, der bringt die Limo mit. Aber was bringt Bilu mit?« - »Meinen Magen zum Essen!« Als Clowns verkleidet, mit viel Comic und Gesang, entwickelten die 17 bis 18-jährigen Erzieher von AdoleScER einen Sketch, und brachten damit den Jugendlichen das Thema Netzwerk näher.

Parallel zu den thematischen Weiterbildungen werden Methodenworkshops angeboten, je nach Bedarf der Gruppe. Diese Seminare tragen zur politischen Bildung bei und bieten »Handwerkszeug«, mit dem die Jugendlichen in den Schulen arbeiten können. Die Gruppen lernen zum Beispiel Theatermethoden, die verschiedene Formen von Gewalt thematisieren. Dadurch verstehen sie, dass sie selber aktiv werden müssen, um Gewalt zu reduzieren. Der Prozess zieht Kreise: Je mehr Personen gegen Gewalt und andere soziale Probleme aktiv werden, umso größer die Wahrscheinlichkeit eines sozialen Wandels.

Ein weiteres wichtiges Element dieser Methode sei auch die »Aktion der Verknüpfung von Wissen«, so Araújo. Besonders wirkungsstark war die Aktion »Roter Zeigefinger gegen Diskriminierung«. Die jugendlichen Multiplikatoren und Multiplikatorinnen der vier Favelas Santa Lucia, Roda de Fogo, Caranguejo/Tabaiares und Santo Amaro gingen an ihren Schulen voran: Jede Schülerin, jeder Schüler, Lehrer, Lehrerin, Sicherheitskraft und sogar ein Polizist wurden aufgefordert, mitzumachen und sich den Zeigefinger rot lackieren zu lassen. Die Idee dahinter: »Ich verurteile oder diskriminiere niemanden, nur weil diese Person Kontakt zu Drogen, eine andere sexuelle Orientierung hat, arm ist oder sonst irgendwie anders ist, als wir es gewohnt sind und ich trage die Botschaft weiter. Der rote Fingernagel soll mich daran erinnern oder andere Menschen dazu bringen, nachzufragen.« Dabei sprachen die Multiplikatoren darüber, was es bedeutet, jemanden zu verurteilen, vor allem, wenn es sich um Konsumenten von Drogen handelt. Wer sich bereiterklärte, die Botschaft weiterzutragen, bemalte sich symbolisch den Zeigefinger rot. »Besonders erstaunlich war, dass auch jede Menge Jungs und sogar das Sicherheitspersonal mitgemacht haben«, findet die 17-jährige Valquiria Conceição, eine Friedensmultiplikatorin.

»Die Herausforderungen, vor denen die brasilianischen Favelas stehen, sind extrem. Die nationale Politik hat dafür keine fertigen Lösungen. Mehr noch, es ist die arme Bevölkerung, die beginnen muss, über ihre Probleme nachzudenken und eigene Lösungen zu finden. Wir helfen den Menschen, selbst Protagonisten ihrer eigenen Geschichte und von strukturellen Veränderungen zu sein«, erklärt der 32-jährige Pädagoge Fidelis das Grundprinzip der Methode.

Grupo AdoleScER hat mit dieser Methode der Gemeindebehandlung und Schulorientierung einen beispielhaften Prozess angestoßen. Nach der dreijährigen Projektphase hoffen sie, ihre Erfahrung in eine staatliche Initiative einbringen zu können. »Wir allein sind nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, erst wenn die Regierung diese Methoden aufnimmt und multipliziert, haben wir eine Chance, dass sich wirklich etwas ändert!«, sagt die 28-jährige Projektkoordinatorin Araújo und: »Ich glaube fest daran!«

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