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War es wirklich vorbei?

Zwei neue Biografien über den Fotografen von Auschwitz: Wilhelm Brasse

  • Johanna Reinicke
  • Lesedauer: 4 Min.

Viele seiner Fotos hat die Welt schon gesehen. Dem Fotografen Wilhelm Brasse, im August 1940 als Häftling mit der Nummer 3444 nach Auschwitz deportiert, hat sein Beruf das Leben gerettet. Als Sohn eines Österreichers und einer Polin hatte er sich geweigert, in die deutsche Wehrmacht einzutreten, die 1939 sein Land überfallen hatte. Er hatte vielmehr versucht, sich zu den »polnischen Streitkräften« nach Frankreich durchzuschlagen. Der politische Häftling Brasse wurde nach wenigen Monaten von den dokumentationsbesessenen Nazis zum Fotografen des Erkennungsdienstes in Auschwitz ausgewählt. Er blieb es bis zur Befreiung durch die Rote Armee. Über diese viereinhalb Jahre Lagerhaft haben die italienischen Dokumentaristen Luca Crippa und Maurizio Onnis eine erzählende Biografie mit dem Titel »Wilhelm Brasse - Der Fotograf von Auschwitz« geschrieben.

Die beiden Autoren hatten noch Gelegenheit, mit Wilhelm Brasse über seine persönliche Geschichte als Häftling in Auschwitz zu sprechen - kurz vor seinem Tod am 23. Oktober 2012 in seiner Geburtsstadt Żywiec. Unsere heutige Kenntnis über die Verbrechen in Auschwitz setzt sich wesentlich aus einzelnen Erinnerungen von Überlebenden der Shoa zusammen. Die Tätigkeit Wilhelm Brasses im Erkennungsdienst des Lagers verschaffte ihm einen Überblick über viele Aspekte dieser Verbrechen. Dadurch wird diese Biografie zu einem einzigartigen Dokument aus der Perspektive eines Opfers. Seine Aufgabe brachte ihn in Kontakt mit vielen, auch prominenten Tätern. Vor allem aber mit Zehntausenden von Opfern, weil er diese »erkennungsdienstlich« zu fotografieren hatte. Brasses Vorgesetzter war der SS-Oberscharführer Bernhard Walter, der ihn aus mehreren inhaftierten Fotografen wegen seiner Deutschkenntnisse und seiner Qualifikation für diese Tätigkeit ausgewählt hatte.

Zunächst muss er die »Schnappschüsse« des Vorgesetzten von dessen Streifzügen durch das KZ entwickeln und vor allem Mithäftlinge fotografieren: Profil, frontal, Halbprofil mit Mütze. Gekennzeichnet mit Nummer und Symbol für die Akten. Solche Fotos sind bekannt, weil Brasse sie bei der Auflösung des Lagers entgegen der in letzter Minute erteilten Weisung seines Vorgesetzten nicht verbrennt. Weil er diese Aufnahmen rettet, zeugen die Bilder heute im Auschwitz-Museum und im Museum der Gedenkstätte Yad Vashem, Jerusalem, von den Opfern und den an ihnen begangenen Verbrechen. Im Verlauf seiner Zwangstätigkeit muss Brasse auch Opfer der Menschenversuche verschiedener KZ-Ärzte, u.a. von Josef Mengele, aufnehmen. Der Fotograf wird unmittelbar Zeuge, wie der Franziskanermönch Maximilian Kolbe an die Stelle eines polnischen Familienvaters tritt, als die SS in einer Vergeltungsaktion zehn Häftlinge in den »Hungerbunker« schickt. Kurze Zeit vorher hatte er Pater Kolbe erkennungsdienstlich fotografiert.

Die Widersprüchlichkeit von Brasses Tätigkeit als Fotograf wird an einem Bild deutlich: Er nimmt ein paar neben einer Baracke wild gewachsene Veilchen auf. Dieses Foto will er der jungen inhaftierten Polin Baśka Stefańska schenken, um ihre Liebe zu gewinnen. Sie weist das Geschenk als zu gefährlich zurück. Brasse hängt das Bild in seiner Fotowerkstatt auf, in die Baśka täglich kommt, um ihm Opfer aus den Fängen des Josef Mengele zuzuführen. Dort entdeckt sein Vorgesetzter dieses Foto und findet es passend, um es »nach Hause« zu schicken. Daraus entwickelt sich ein kleiner »Handel«: Brasse muss kolorierte Abzüge dieses Fotos für SS-Leute herstellen und erhält als Gegenleistung und für »private« Fotoarbeiten für seine Bewacher ein paar kleine Vergünstigungen, die er mit anderen Häftlingen teilt. Brasse verliert den Kontakt zu Baśka. Das von ihr - ohne erkennungsdienstlichen Auftrag - aufgenommene Porträt trägt er stets bei sich.

Der Epilog erzählt die Geschichte nach der Befreiung weiter: Die liebevollen Gefühle des Fotografen gegenüber Baśka Stefańska hatten seine Überlebenskraft im Lager gestärkt. Baśka wird sie beim Wiedersehen in Freiheit aber nicht erwidern können - und der Überlebende Wilhelm Brasse wird nach allem, was er in Auschwitz hatte fotografieren müssen, nicht mehr in der Lage sein, seinen alten Beruf weiter auszuüben.

Zum 70. Jahrestag der Befreiung Auschwitz durch die 60. Armee der 1. Ukrainischen Front ist noch eine zweite Biografie erschienen. Der Sozialpädagoge Rainer Engelmann, der Studienfahrten mit Schulklassen nach Auschwitz unternimmt, wendet sich vor allem an Jugendliche. Er gewann für sein Buch einen prominenten Vorwortschreiber: Max Mannheimer. Der gebürtige Tscheche war mit seiner Familie von den Nazis ins KZ Theresienstadt deportiert und von dort über das Ghetto Warschau nach Dachau verschleppt worden. In seinem Vorwort konstatiert er: »Auf den Holocaust folgte zunächst Schweigen. Die Überlebenden, die Zurückgekehrten waren fassungslos. Was hatten sie durchgemacht? Was hat man ihnen angetan? ... War es vorbei? War es wirklich vorbei?«

Luca Crippa und Maurizio Onnis: Wilhelm Brasse - Der Fotograf von Auschwitz. Blessing, München 2014. 336 S., geb., 19,99 €. Reiner Engelmann: Der Fotograf von Auschwitz, cbj Kinder- und Jugendbücher. München 2014. 192 S., geb., 14,99 €.

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