Aus der Isolation vertrieben

Lebensgrundlage unberührter Urvölker im Amazonas bedroht

  • Andreas Behn, Rio de Janeiro
  • Lesedauer: 4 Min.
Mehr als 100 Gruppen von Ureinwohnern leben ohne Kontakt zur Außenwelt im Amazonasgebiet. Doch Holzabbau, Drogenhandel und Plantagen zwingen immer mehr zur Aufgabe ihrer Lebensform.

Isolation gehört zu ihrem Selbstverständnis und ihrer Überlebensstrategie. Doch immer mehr unkontaktierte Urvölker in Brasiliens Regenwald werden dazu gezwungen, sich auf die Außenwelt einzulassen. Weil das Amazonas-Gebiet zunehmend für Wirtschaftszwecke ausgebeutet wird, der Wald abgeholzt wird und immer mehr Farmen entstehen, sind die Schutzgebiete bedroht, in denen sie nahezu unerkannt leben.

Nach den Wahlen im Oktober, bei denen die parteiübergreifende Fraktion der Großgrundbesitzer deutlich gewachsen ist, befürchten die Angehörigen der Urbevölkerung neue Bedrohungen. Die Parlamentarier beraten derzeit eine Gesetzesinitiative, die die Befugnis zur Demarkierung von Schutzgebieten von der Regierung auf den Kongress übertragen soll. »In der Praxis würde dies bedeuten, dass keine neuen Gebiete für Indianer mehr eingerichtet werden«, befürchtet Danicley de Aguiar von Greenpeace. Schlimmer noch: »Bereits anerkannte Reservate könnten in Zukunft infrage gestellt werden.«

Dies wäre ein Rückschritt, der für zahlreiche isoliert lebenden Völker lebensbedrohlich wäre, betont De Aguiar. »Das Gesetzesprojekt geht von der falschen Annahme aus, dass der Schutz der Urbevölkerung und das Wachstum der Landwirtschaft nicht miteinander vereinbar sind.«

In keinem Land der Erde leben so viele unkontaktierte Völker wie in Brasilien. Die nationale Indianerbehörde Funai spricht von über 100 Gruppen. Dabei handelt es sich teils um ganze Stämme, teils nur um kleine Verbände. Nachgewiesen sind laut Funai 26 von ihnen. Wegen schlechter Erfahrungen anderer Volksgruppen, die bedroht oder gar versklavt wurden, hätten sie Angst vor Kontakt zur Außenwelt, vermutet Funai-Mitarbeiter Leonardo Lenin.

Doch es wird immer schwieriger, die Isolation beizubehalten. »Der größte Druck geht von der Holzindustrie, der Brandrodung für die landwirtschaftliche Nutzung und anderen illegalen Aktivitäten aus«, sagt Lenin. Wenn ihr Lebensraum nicht mehr gesichert ist, verändere sich ihr Leben. »Als letzten Schritt nehmen sie dann manchmal Kontakt auf.«

Ziel von Funai ist, dafür zu sorgen, dass die Urvölker ungestört leben können. Seit rund 30 Jahren verfolgt die Behörde eine strikte Schutzpolitik: Es wird kein Kontakt aufgenommen, außer er geht von den Ureinwohnern aus. Oder wenn plötzlich besondere Risiken für Gesundheit und Leben auftreten.

Doch Vertreter der Indianer kritisieren die staatlichen Stellen. »Es fehlt an Schutzmaßnahmen und Sensibilität seitens der Behörden, um den in Not geratenen Ureinwohnern angemessen zu helfen«, sagt der Koordinator des katholischen Indianer-Missionsrates Cimi, Lindomar Padilha. Auch das Vorgehen von Funai hält Padilha für fragwürdig. Zwei Gruppen, die sich kürzlich Hilfe suchend an die Außenwelt gewandt hätten, hätten Behörden-Mitarbeiter Bananen und andere Gegenstände angeboten, statt ihnen Schutz und Anonymität zu garantieren.

»Die Behörden verhalten sich sehr aggressiv, es erinnert an die Zustände von vor 500 Jahren«, sagte Padilha mit Verweis auf die Eroberung Lateinamerikas durch Spanien. Eine Gruppe von 23 Indianern, die davor Kontakt zur Außenwelt vermieden hatte, wandte sich im August an Mitglieder eines Nachbarstammes. Offenbar wurden sie in ihrem unzugänglichen Urwaldgebiet von Drogenschmugglern bedroht. Auf ihrer Flucht überquerten sie die Grenze von Peru nach Brasilien. Einige Wochen vorher hatte eine Gruppe von sieben Ureinwohnern erstmals Kontakt zur Außenwelt aufgenommen und war dabei von Funai-Mitarbeitern gefilmt worden.

Ein solches Vorgehen respektiere nicht den Wunsch der Menschen nach Isolation, kritisierte Padilha. »Das in der Verfassung für solche Fälle vorgesehene Schutzgebiet wurde von der Funai vor drei Jahren abgeschafft.« Die größte Gefahr für isolierte Indianer seien Krankheitserreger wie Grippeviren, gegen die sie keine Antikörper hätten. Deshalb sei eine gute Möglichkeit, andere Stämme, die bereits Kontakt zu den Behörden hätten, als Vermittler einzusetzen und ihnen dafür staatliche Unterstützung zu geben.

Der Bundesstaat Acre, in den die Indianer aus Peru flüchteten, erhalte Geld für den Schutz der Urbevölkerung, setze es jedoch nicht ein, sagte der Wissenschaftler und Philosoph, dessen Organisation sich seit Jahrzehnten für die Rechte der Urvölker einsetzt. Nach seinen Worten erkennen die Zentralregierung und die industrielle Landwirtschaft die angestammten Gebiete und die Lebensgrundlagen der zahlreichen Ethnien nicht an. epd/nd

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