Freispruch für Fett und Zucker

Wissenschaftler suchten vergeblich nach einem Suchtstoff in Dickmachern

  • Henriette Palm
  • Lesedauer: 5 Min.

Elisabeth N. hat kurz nach Weihnachten in fröhlicher Runde mit Freunden und Bekannten ihren 60. Geburtstag gefeiert. Sie hatte ihre berühmte Käsetorte mit sehr viel guter Butter und einen Eierlikörkuchen gebacken und erntete viel Lob für beide, wenn auch alle jammerten, sie hätten über Weihnachten sowieso schon zugenommen. Beim zweiten Stück fiel bereits die Bemerkung, diese Torte mache regelrecht süchtig. Und ein paar Minuten später diskutierte man lebhaft darüber, was die Nahrungsmittelindustrie in Fruchtjoghurts, Getränken und Süßwaren, aber womöglich auch in Kartoffelchips und anderen Snacks an Beimengen unterbringe, damit Verbraucher davon gar nicht mehr lassen könnten und immer dicker würden. Eine Stevia-Anhängerin war sich sicher, Zucker an sich mache süchtig, ein anderer hatte gerade das Buch von der »Weizenwampe« gelesen und damit in der goldenen Feldfrucht den Verantwortlichen für immer mehr Übergewichtige in allen Altersgruppen ausgemacht.

Laien sind nicht allein auf der Suche nach einem Stoff, der Esssucht und auffälligen Nahrungsmittelkonsum in immer größeren Teilen der Bevölkerung erklärt. Auch Wissenschaftler fühlten sich im Verdacht bestärkt, suchterzeugende Substanzen im Essen zu finden, als bei Tieren, die viele zuckerhaltige Nahrung erhielten, bei deren Absetzung regelrechte Entzugserscheinungen auftraten. Die für manche Menschen vielleicht enttäuschende Nachricht: Es wurde in keiner Studie ein solcher Suchtstoff gefunden. Esssucht, von der man öfter liest, ist also keine Sucht wie Alkohol- oder Nikotinsucht. Dort, wo der Begriff überhaupt gerechtfertigt ist - und das ist er in den wenigsten Fällen - handelt es sich um eine stoffungebundene Sucht, vergleichbar mit der Spielsucht.

Die meisten Menschen mit starkem Übergewicht sind aber nicht esssüchtig, haben weder eine Essstörung wie Bulimie noch leiden sie am sogenannten Binge-Eating. Ihr Übergewicht resultiert vor allem aus Bewegungsmangel und zu vielem Essen sowie weiteren Faktoren, die Wissenschaftler verschiedener Disziplinen untersuchen.

Dr. Ursula Kassner von der Fettstoffwechselambulanz der Charité in Berlin verweist auf den ab 40 Jahren veränderten Stoffwechsel und die Körperzusammensetzung. Der Stoffwechsel werde je nach genetischer Veranlagung um bis zu 15 Prozent heruntergefahren. Wegen gleichzeitig sinkender Muskelmasse verbrennt der Körper weniger Kalorien. Bei etwa gleicher Nahrungszufuhr ist eine Gewichtszunahme also programmiert. Auch die Hormone spielen uns einen Streich: Weniger Östrogen und Testosteron begünstigen Fetteinlagerungen am Bauch, ein sinkender Spiegel des fettabbauenden Wachstumshormons Somatropin tut ein Übriges. Will man diese Folgen zumindest reduzieren, helfen nur reduzierte Nahrungsaufnahme und Muskelaufbau durch regelmäßiges Training.

Die Berliner Psychologin Dr. Verena Klusmann wünscht sich deshalb mehr Bewegungsangebote für Senioren. Die üblichen Jahresverträge in Fitness-Studios seien für ältere Menschen weniger geeignet und für viele auch zu teuer. Preiswerte wohnortnahe Kurse, bei denen ein Wechsel oder auch ein Aussetzen aufgrund akuter gesundheitlicher Beschwerden leichter ist, wären wünschenswert und mit Blick auf eine alternde Bevölkerung gesundheitspolitisch geboten. Andere Forschungen konzentrieren sich auf den Zusammenhang psychischer Probleme und einem problematischen Essverhalten. Ärzte und Psychologen vermuten seit langem, dass Schicksalsschläge, Ehekrisen, Arbeitslosigkeit und Depressionen das Essverhalten beeinflussen können, weil Menschen sich mit Essen trösten oder für überstandene Krisen belohnen.

Prof. Dr. Denise de Ridder von der Universität Utrecht verfolgt einen anderen Erklärungsansatz. Sie untersucht die Selbstregulationsmechanismen und bezieht in ihre Forschungen Umweltfaktoren und soziale Normen mit ein. Emotionen - so konnte sie mit ihrem Team nachweisen - interagieren mit dem Gesundheitsverhalten, so dass Menschen z.B. dazu tendieren, negative Emotionen durch große Mengen von Essen zu kompensieren. »Versuchungen schließlich sind das Herzstück des Dilemmas, in das unsere Selbstkontrolle bisweilen gerät. Sie sind deshalb so gefährlich, weil sie uns in einen Konflikt zwischen einem langfristigen Ziel wie dem Abnehmen und einer sofortigen Befriedigung durch Genuss stürzen.« Dem langfristigen Ziel treu zu bleiben und Versuchungen zu widerstehen, ist Untersuchungen zufolge in einer Gruppe von Gleichgesinnten leichter als neben einem Partner, der womöglich weniger Gewichtsprobleme oder den Kampf dagegen längst aufgegeben hat. Auch Verfügbarkeit entscheide mit darüber, ob Menschen in einem schwachen Moment der Versuchung nachgeben: Wer keine Vorräte an süßen und salzigen Snacks zu Hause hat, kann in kritischen Situationen auch nicht danach greifen. Wer mehr spazieren geht als fernsieht, nascht seltener »nebenbei«.

De Ridder kritisiert zudem das Überangebot zu süßer, zu salziger und zu fetter Nahrungsmittel in Supermärkten und an Automaten. Die Debatte in Deutschland über die Platzierung von Süßigkeiten an den Kassen der Supermärkte, an denen man - den süßen Reiz vor Augen - oft mehrere Minuten steht, ist nach Meinung von Dr. Özgür Albayrak von der Universität Duisburg-Essen (UDE) zumindest ein Anfang. Aggressive Werbung für angeblich gesunde Snacks für Kinder gehört für ihn ebenfalls auf den Prüfstand. »Wer Süßes erfolgreich bewerben kann, könnte das auch mit Gurken«, sagt er und befürwortet ideenreiche Werbung für einen gesunden Lebensstil.

Eine kleine Zahl tatsächlich Esssüchtiger werde es auch dann noch geben, erwartet Albayrak angesichts jüngster Forschungsergebnisse an der UDE, wonach psychologische Faktoren, die die Nahrungsaufnahme steuern, maßgeblich dafür verantwortlich sind, wenn das Essen zur Sucht wird. Eine Studie mit psychiatrischen Patienten, von denen eine Gruppe bereits an Ess-Sucht litt, eine andere nur auffälliges Essverhalten zeigte, deute auf Zusammenhänge zwischen Essverhalten auf der einen und Depression oder starkem Stress auf der anderen Seite hin. Um Patienten jedoch gezielter helfen zu können, bedürfe es weiterer wissenschaftlicher Feldforschung.

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