Amnesty: Weltgemeinschaft versagt

Report zur »Lage der Menschenrechte« / Katastrophales Jahr für Flüchtlinge / Massive Menschenrechtsverletzungen angeprangert

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein leichter Gang ist es sicher nicht, den Selmin Çalışkan jedes Jahr zu gehen hat. Wenn die Leiterin der deutschen Sektion der weltweit größten Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) den Report zur »Lage der Menschenrechte« vorstellt, dann dominieren in ihrem Statement stets die schlechten Nachrichten. Als sie am Dienstag in Berlin über den AI-Report 2014/15 zum Stand der Menschenrechte in 160 Ländern berichtete, betonte die Tochter türkischer Einwanderer aus dem nordrhein-westfälischen Düren dann auch, dass der Kern des Berichtes in der weiter zunehmenden Macht und Brutalität bewaffneter nicht-staatlicher Gruppen in 35 Ländern sowie einer »beschämenden Reaktion der Weltgemeinschaft darauf« bestehe. Und doch war es ihr ein Anliegen, auch Beispiele zu nennen, die Amnesty als Hoffnungsschimmer sieht.

Mit einem dezenten Lächeln sprach Çalışkan etwa über den Fall Miriam Ibrahim. Als die Sudanesin im vergangenen Jahr einen Christen heiratete und zugleich dem Islam den Rücken kehrte, verurteilte sie die staatliche Justiz zum Tode. Dank massiver Proteste rund um den Globus und des Einsatzes von Amnesty sei die Frau letztlich freigesprochen worden. Erfreulich sei auch, dass die afrikanische Menschenrechtskonvention 2014 die Rechte homo- und transsexueller Menschen gestärkt habe. Nach diesen positiven Mitteilungen musste die gelernte Übersetzerin dann doch schnell wieder in der Stimmlage zu einem entschlossen-empörten Timbre wechseln – schließlich habe es 2014 schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen im Zuge bewaffneter Konflikte gegeben.

Insbesondere nicht-staatliche bewaffnete Gruppierungen wie der »Islamische Staat« (IS) in Irak und Syrien oder die islamistische Terrorgruppe Boko Haram in Nigeria stehen im Fokus des Berichts. Auch wenn Marie Lucas, die AI-Referentin für Europa, explizit herausstellte, dass die Kiew-treuen Truppen für verheerende Angriffe gegen die Zivilbevölkerung im Ukraine-Konflikt »besonders berüchtigt« seien, verurteile man ebenso entsprechende Vergehen der pro-russischen Separatisten. Die »Weltgemeinschaft« habe angesichts der zunehmenden Gewalt gegen Zivilisten versagt, kritisierte Selmin Çalışkan: »Statt den Schutz der Zivilbevölkerung ins Zentrum internationaler Politik zu stellen, blockieren nationale, geopolitische und wirtschaftliche Interessen ein gemeinsames Handeln und heizen Konflikte noch weiter an.«

In vielen Krisengebieten sei die Lage der Frauen besonders Besorgnis erregend. »In Südsudan oder in Somalia«, so Çalışkan, »wird sexualisierte Gewalt gegen Frauen immer stärker als Kriegswaffe eingesetzt.« Entführung, Vergewaltigung und Versklavung stehen demnach vielerorts auf der Tagesordnung, weil Frauen aufgrund ihrer rechtlichen Benachteiligung nicht vor Gericht ziehen können.

Die zahlreichen bewaffneten Konflikte hätten im vergangenen Jahr zur »größten Flüchtlingskatastrophe seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges« geführt – wofür Selmin Çalışkan die europäischen Regierungen maßgeblich mitverantwortlich machte. Insgesamt seien weltweit 57 Millionen Menschen auf der Flucht; schon im ersten Halbjahr 2014 habe die Bedrohung durch Waffengewalt 5,5 Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Von diesen fanden 95 Prozent in den direkten Nachbarländern Zuflucht. Allein Libanon nahm im vergangenen Jahr 715 Mal mehr Flüchtlinge auf als die gesamte Europäische Union (EU). »Bei einer Bevölkerung von weniger als sechs Millionen Menschen lebten dort eine Million syrische Flüchtlinge«, erklärte Çalışkan. Europa habe bisher nicht für die notwendige Entlastung gesorgt. Es brauche jedoch viel mehr Aufnahmeplätze in der EU. Zugleich müsse sich die Politik mit den langfristigen Ursachen der Konflikte beschäftigen: »Boko Haram oder der IS sind nicht vom Himmel gefallen. Ihr Erstarken beruht auf vergangenen und andauernden Menschenrechtsverletzungen.«

Amnesty fordert daher von den ständigen Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrates, im Falle von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen verbindlich auf ihr Veto zu verzichten, denn »2014 war ein verheerendes Jahr für Millionen von Menschen, die unter der Bedrohung durch Entführungen, Folter, sexualisierte Gewalt, Anschläge, Artilleriefeuer und Bomben auf Wohngebiete leben mussten«, resümierte Çalışkan.

Erst ganz am Ende, als sich die meisten Medienvertreter bereits aufgemacht hatten, die unfrohe AI-Kunde zu verbreiten, kehrte das fast unauffällige Schmunzeln in das Gesicht der Aktivistin zurück. Ob sie denn in letzter Zeit in dieser Hinsicht positive Signale der Bundeskanzlerin registriert habe. Ja, so Çalışkan ironisch, in ihrer Neujahrsansprache habe sich Merkel für die Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen. Leider, ergänzt sie, habe die mächtigste Frau der Welt aber noch nicht ausreichend Taten folgen lassen. Mit diesem Nachsatz ist es am Ende doch wieder verschwunden, das Lächeln in Selmin Çalışkans Gesicht. Sie wird wissen, dass ihr Job in den kommenden Jahren kaum leichter werden dürfte.

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