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Kraft der Kindheit, bis zum Sterben

Valerie Fritsch führt aus »Winters Garten« in die Hölle der Apokalypse

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Anton Winter wird Vogelzüchter - und zieht in die Stadt. Vogelzüchter in einem Hochhaus - hauptsächlich zwingt sich der Mensch in das, was ihn presst und fremd macht vor sich selber. Das gilt schon als große Kunst: diese Behauptung, man lebe ganz und gar sein eigenes Leben, so sagen, dass die Augen nicht flackern. Anton Winter kommt aus dem Garten - ja, Valerie Fritsch erzählt von einer Gartenkolonie vor der Stadt am Meer und entwirft ein grandios wahrhaftiges Panorama der Generationen-Gemeinsamkeit.


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* Valerie Fritsch: Winters Garten. Roman.
Suhrkamp. 160 S., geb., 16,95 €.


Dann die Stadt. Und der drohende, unabweisbare Weltuntergang! Idylle geht über in Hölle. Massenselbstmorde. Flatternde Fluchten. Unbeschreibliches Elend. Feuer. Krieg? Eine Naturkatastrophe? Wer weiß. Keiner weiß, und doch hat’s jeder gewusst - was nämlich kommt, wenn wir nicht anders werden. Und im größten Schreck die große Liebe.

Lars von Triers Film »Melancholia«, Tarkowskis Filme »Opfer« und »Stalker«, Ransmayers Roman »Morbus Kitahara« - manchmal greift man zur blöden Ungerechtigkeit des Vergleichs, weil einen das Original so verblüffend stumm macht. Valerie Fritsch, die Österreicherin vom Jahrgang 1989, hat mit »Winters Garten« einen überwältigenden, sensationellen, poetischen wie harten Roman über eine Apokalypse geschrieben. Über die Apokalypse und die Liebe. Über das Rettbare in uns, wenn wir zu Unrettbaren werden - oder längst geworden sind. Gleichnis, Gegenwart. Unsere Zeit, alle Zeit - das hat eine Zartheit und einen Zauber und eine Wucht und eine aschene Unerbittlichkeit; ich weiß nicht, wie lange ich schweigen würde, fragte man mich nach einem Buch aus jüngerer Zeit, das mich so erschlagen und erhoben und wieder erschlagen hätte.

Rezensieren wirkt wie Ödnis, Erläuterung macht klein. Nacherzählung wäre Verrat, Beschreibung Hilflosigkeit. Das Buch: pure Verführung zum Zitat. »Die Geburt steckte noch allen in den Knochen, so dass man den Tod nicht fürchten musste ... Die Kinder waren Kinder aus Stroh, wenn sie über die Sommerwiesen liefen ... Man war verloren genug, sich in jedem zu finden ... Schnee fiel, und es war, als breitete sich eine Erleichterung über die Welt, dass man nicht mehr alles sehen musste ... Die Kindheit erschien ihm jetzt als ein Ort, an dem man später groß sein möchte, um endlich für nichts mehr zu klein zu sein, und gleichzeitig als einer, vor dem man sich sein Leben lang retten muss ... Jenseits der großen Zuneigung kam eine unbeholfene Traurigkeit unter den Familienmitgliedern auf und jene peinliche Berührtheit, die entsteht, wenn die gut gemeinten Ratschläge und Erfahrungen der Alten nicht mehr hilfreich sind.«

Lesen ist das eine, sich festlesen das Höhere. Das Lesen als Fest, und zugleich dieser zunehmende Schauder. Balance dessen, von dem es im Buch heißt, dass es »die Erde auseinanderreißt und zusammenhält: das Lieben und das Grauen«. Eine eigentlich unglaubliche Balance ist da erreicht: die alles überfluten wollenden Sprachfarben und eine zum Bleiben zwingende Gegenständlichkeit kommen miteinander aus. Stürzen, nein fließen ineinander. Wahrhaftigkeit, die du lesend immer Weisheit nennen möchtest. Ein Buch über das böse Ende, das her muss, um die guten Anfänge zu beweinen. Ein Buch über die Kindheit, deren Grade von Frieden und Güte darüber entscheidet, wie beseelt eines Tages dein Sterben sein wird. Ein Buch über die Einsamkeit, die in jeder Einzigartigkeit steckt und quält. Das Buch spielt mit der Schwere, als sei es leicht. Verklärung und Verfluchung so aneinander gebunden, dass etwas zum Geheimnis zusammenkommt. Das schlimme Großeganze. Die wirkliche Geschichte. Deren Feuerton. Deren Feuerknistern. Und das Feuer wärmt nicht. Und das Buch sagt nicht, seine ihm lieben Menschen seien entkommen. Es sagt nicht einmal, Entkommen sei überhaupt möglich. Aber dass alles so und nicht anders erzählt wird, das tut schon gut. Und weh. Und du schaust jetzt für Momente anders zu den Wolken hin. Verhängnis ist dir jetzt etwas Vertrautes, deshalb zählst du an einer Hand auf, mit wem ein Zusammenrücken möglich wäre. Und hoffst, die Finger nur einer Hand genügen nicht. Das ist doch schon ein Sieg über die dunkle Farbe der Wolken.

Der Garten. Ausgangsort und dann letzte Zufluchtsort für Anton Winter. Der Garten wie eine Rettungslandschaft, wenn man aus den falschen Paradiesen vertrieben wurde. Kurz denke ich an die Erkenntnis eines anderen Romanhelden: Das Übel der Welt kann man nicht erklären; was man kann, ist höchstens dies: »Wir müssen unseren Garten pflegen.« Sagt die Titelgestalt aus »Candide oder Die Beste der Welten« von Voltaire. Den Garten pflegen. Graben. Zum Kern der Dinge? Im Kern versteckt die blühende Landschaft, die uns aufgehen wird wie die Wahrheit: das, was uns blüht.

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