»Sie alle sind Kinder«

An der Brodowin-Grundschule in Berlin-Lichtenberg lernen Schüler aller Ethnien

  • Christina Matte (Text) und Joachim Fieguth (Bild)
  • Lesedauer: 8 Min.

Es wird getollt, gealbert, Ball gespielt, gelacht - Hofpause an der Brodowin-Grundschule im Ostberliner Stadtbezirk Lichtenberg. So sieht Hofpause an allen Grundschulen aus. Nur, dass hier Knirpse aller Ethnien durcheinanderstieben. Und dass einige von ihnen ihr Lachen von den Lehrerinnen und Lehrern geschenkt bekommen. Völlig unbeschwert sind diese kleinen Mädchen und Jungen dennoch nicht: Sie leben mit ihren Eltern und anderen Flüchtlingen aus Syrien, Tschetschenien, Afghanistan, Serbien und Osteuropa im nahe gelegenen Flüchtlingsheim. In einem überaus engen Quartier, in das auch die schrecklichen Bilder von Krieg und Flucht mit Einzug gehalten haben. In die Schule zu gehen, bedeutet für sie erst in zweiter Linie, etwas zu lernen. In erster Linie bedeutet es, wenigstens an den Wochentagen herauszukommen aus dem Heim, die Bilder hinter sich zu lassen, einen strukturierten Tag zu erleben, mit anderen Kindern zusammen zu sein.

*

500 Schüler besuchen derzeit die Brodowin-Grundschule, 43 Prozent von ihnen erscheinen in der Statistik als »ndH«, als Schüler »nichtdeutscher Herkunftssprache«. »Über diese Zahl lacht Neukölln«, sagt Rektor Ralph Kaiser, »aber für einen Ostbezirk ist sie schon recht ordentlich.« Er hat hier Kinder aus mindestens 20 Ländern.

Ralph Kaiser ist 59, sein Pferdeschwanz grau. Er ist nicht in Sorge ergraut, so ein Typ ist er nicht. Er lacht gern und packt die Dinge an. Als er 1978 an die neu gegründete Polytechnische Oberschule im damaligen Stadtbezirk Hohenschönhausen kam, war er 23. 1990 ist er Direktor geworden, 1991 hat er die POS abgewickelt und als Grundschule weitergeführt. Seit dieser Zeit hat sie ein ökologisches Profil und unterhält Beziehungen zum brandenburgischen Ökodorf Brodowin. Zweimal in der Woche liefert Brodowin frische Milch nach Lichtenberg, die mit Hilfe einer Anlage im Schulkeller für die Kinder portionsweise abgefüllt wird. In den Jahren 2011/12 kamen die ersten Flüchtlingskinder, zwischen 50 und 70 sind es zur Zeit, die Anzahl innerhalb eines Schuljahres schwankt: Es gibt Zu- und Abgänge.

Ebenfalls seit dem Schuljahr 2011/12 werden deutlich mehr Kinder aus Familien vom sogenannten gesellschaftlichen Rand in der Schule angemeldet. Ihre Eltern sind mit ihnen aus den angesagten Berliner Bezirken in Lichtenbergs Plattenbauten gedrängt worden. Seitdem hätten die »sozialen Dissonanzen« an der Schule zugenommen: Im Schuljahr 2013/14 sei es zu mehr als 40 »Gewaltvorfällen« gekommen. Man habe hier inzwischen Kinder, die »eigentlich nicht beschulbar« seien, mit geringer Frustrationsschwelle, »die schlagen zu, wenn man sie schief anguckt«. Dabei handele es sich um die »normalen deutschen Chaoten«, die »mit Stühlen und Tischen schmeißen«, aber auch um einige wenige Flüchtlingskinder, die von ihren Erlebnissen schwer traumatisiert sind. Deshalb gebe es seit 2011/12 an der Schule einen Sozialarbeiter. »Einen Sozialarbeiter!« wiederholt Kaiser. Um dann mit forcierter Fassungslosigkeit nachzulegen: »Ein einziger Sozialarbeiter für eine Schule mit drei Standorten! Das ist die Stelle, an der wir kräftig nach Hilfe schreien.«

Ansonsten schreit Kaiser nicht nach Hilfe. Anders als in Marzahn und Köpenick sei das Flüchtlingsheim in Hohenschönhausen, aus dem ein Teil seiner Schüler kommt, nicht auf Ablehnung gestoßen. Vielleicht, weil die Bürger kaum mitbekamen, dass es eingerichtet wurde. In der Elternschaft sei das Thema ebenfalls »nicht hochgekocht«, inzwischen habe sie die bunte Schule mehr oder weniger angenommen. Kaiser spricht vom »großen Engagement« des Kollegiums. Fragt man ihn, woraus sich dieses Engagement speist, sagt er nüchtern: »Man hat keine Wahl. Will man die Situation bewältigen, muss man mehr als 100 Prozent geben.« Bis 2020 erwartet Kaiser einen weiteren Anstieg der Schülerzahl: Voraussichtlich wird seine Schule dann für 700 Schüler verantwortlich sein.

*

Unterricht in einer ersten Klasse. Die Mädchen und Jungen, die an diesem Morgen erwartungsvoll vor Klassenlehrerin Olivia Grauel sitzen, tragen Namen wie Solomon, Anna, Jehad, Philipp, Mohamed, Kendija, David, Muslim, Leni. Von den 15 Schülerinnen und Schülern leben sieben im Flüchtlingsheim, andere sind »ndH«, lediglich fünf sogenannte »Biodeutsche«. Olivia Grauel sagt: »Egal, sie alle sind Kinder.«

Von diesen Kindern allerdings sprechen mehrere nur ein paar Worte Deutsch. Wenn man es anders ausdrücken will: Immerhin, ein paar Worte beherrschen sie schon. Jehad und Mohamed zum Beispiel. Erst vor einem dreiviertel Jahr erreichten sie mit ihren Familien Deutschland, nach langer und beschwerlicher Flucht vor dem Bürgerkrieg in Syrien. Als Mohamed dann vor einem halben Jahr in Olivia Grauels Klasse kam, weinte und schrie er, sobald seine Mutter ihn in die Obhut der Lehrerin gab. Drei lange Monate ging das so: Angst, die Mutter zu verlieren, Angst in der für ihn fremden Umgebung. Noch immer wird er therapeutisch betreut, allmählich fasst er ein wenig Vertrauen. Wie, unter solchen Umständen, soll Olivia Grauel es anstellen, dass ihre Schüler einander verstehen und gut miteinander umgehen? Wie ihnen etwas beibringen?

Sie hält feste Rituale ein und hat Regeln aufgestellt. Einige dieser Regeln sind, mit Piktogrammen versehen, an die Wand gepinnt. Das Herz bedeutet: »Danke, dass du …«, die erhobene Hand: »Ich möchte, dass du aufhörst«, der Smiley sagt: »Ich freue mich«, die Blume: »Bitte entschuldige«. Frau Grauel spricht leise, auch mal lauter, sanft oder bestimmt, sie lobt oder tadelt. Die Stunde ist strukturiert und abwechslungsreich, auf Phasen des Spiels folgen solche der Konzentration - alle Schüler sind gefordert. Und alle, auch die, die kaum Deutsch verstehen, möchten mitmachen und dazugehören.

Nach drei Unterrichtsstunden und einer Hofaufsicht dröhnt Olivia Grauel der Kopf. Sie sagt: »Ich brauche jetzt zehn Minuten für mich, dann bin ich wieder einsatzfähig.« Auch diese Farbe gehört zum Bild.

*

Kurz vor Beginn der nächsten Stunde erscheint Martina Erdmann im Klassenraum und nimmt ein ein paar Kinder mit, um deren sprachliche Fähigkeiten zu fördern. Diese Kinder haben deutliche Defizite, Mohamed gehört zu ihnen, aber auch Mädchen und Jungen aus sogenannten bildungsfernen Familien. Mit der Sprachkompetenz befasst sich Martina Erdmann, weil sie sich »auf Vorschlag des Chefs« zur Sprachbildungskoordinatorin ausbilden ließ. Wir erfahren, dass es sich bei einer solchen um eine für die Sprachförderung zuständige Fachkraft handelt, die einer Schule erst bewilligt wird, wenn mehr als 40 Prozent ihrer Schüler »lernmittelbefreit« sind, also »Transferleistungen« beziehen. An der Brodowin-Grundschule seien dies inzwischen 47 Prozent.

Trotz der allgegenwärtigen Termini der Armutsverwaltungsbürokratie versuchen Martina Erdmann und ihre Kollegen, ihre Arbeit menschlich, ja freundlich zu verrichten. Dabei leben auch Berliner Lehrer nicht auf einer Insel der Glückseligen. Martina Erdmann, die in Schöneberg wohnt, nimmt täglich den Weg nach Lichtenberg und von dort zurück in Kauf, weil sie hier, anders als in Schöneberg, eine Festanstellung fand.

Was macht eine Sprachbildungskoordinatorin? Neben der Arbeit in »Willkommensklassen« führt sie Schüler von der Alltags- zur Bildungssprache. So sorgt sie dafür, dass fachspezifische Begriffe wie »Addition« und »Subtraktion« statt »Plus« und »Minus« in den Sprachschatz Eingang finden. Sie sensibilisiert das Kollegium für ihre Themen und organisiert Fachkonferenzen, auf denen man sich Arbeitsblätter vornimmt und diese für alle verständlich gestaltet, mit eindeutigen Aufgabenstellungen. Oder sie entwickelt Lernplakate, die Begrifflichkeiten erklären: Was heißt vergleichen, was beschreiben? »Meine Arbeit ist nötig«, sagt Martina Erdmann, »damit alle Kinder die gleichen Chancen haben.« Als wüsste sie nicht, dass nie alle Kinder die gleichen Chancen haben werden. Aber würde sie diesem Wissen erlauben, sich breit zu machen in ihrem Kopf, wäre sie nicht mehr die fröhliche, hochmotivierte Frau, die sie ist.

Sozialarbeiter Jens Blasius trifft man in den Hofpausen oft innerhalb eines Kreises aus Sitzbänken, in dessen Mitte ein kleiner Baum wächst. In diesen Baum pflanzt er zu Anfang der Pausen ein langstieliges, weithin sichtbares Pappschild, das er am Ende wieder mitnimmt. Auf dem Schild steht: »Friedensinsel«. Während kleine »Streitschlichter« in grünen Überwürfen auf dem Schulhof unterwegs sind, wartet Blasius auf seiner Friedensinsel auf Parteien, die ihn um Hilfe bitten. Irgendwo brüllt jemand mit Deutschkenntnissen: »Fick dich!« Bildungssprache ist das nicht, aber auch nichts, was hier als Gewaltausbruch gilt. An diesem Tag bleibt Jens Blasius auf der Friedensinsel allein.

Von Blasius wird viel erwartet. Er soll Schüler, Lehrer und Familien unterstützen, mit allen gemeinsam Wege finden, bedürftige Kinder zu fördern. Er soll sich um Gewaltprävention und ein »angenehmes Miteinander« kümmern. Er soll Netzwerkarbeit leisten, mit Jugendfreizeiteinrichtungen zusammenarbeiten, mit Jugendamt und Jugendhilfe. Das alles macht er, mehr als das. »Doch die bezirklichen Einrichtungen sind, gemessen an der sozialen Entwicklung, derzeit hoffnungslos unterbesetzt. Viel zu wenig Mitarbeiter. Die Fälle stapeln sich auf den Tischen.«

Bevor Jens Blasius an die Brodowin-Grundschule kam, hat er im Neuköllner Rollbergviertel gearbeitet. Klar, sagt er, dort sei die Integration der früheren Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien und Palästina »voll in die Hose« gegangen. Kein Grund, es jetzt hier nicht besser zu machen. Schaue man Jehad und Mohamed an, sehe man Jungen mit großen, warmen Augen. Jungen, die man gern haben müsse. Was für Menschen würden aus ihnen, käme zu ihren Erlebnissen von Krieg und Flucht jetzt die Erfahrung von Zurückweisung, Ausgrenzung, Demütigung? Würde man sie als Halbwüchsige in diesem Fall noch gern haben können?

»Wir stellen die Weichen«, glaubt Jens Blasius, »wir haben es in der Hand.« Haben wir das, oder hofft er es?

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal