Opfer-Bereitschaft

Annette Hochhardt leitet in der Prignitz eine von 420 Außenstellen des »Weißen Rings«.

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Welt werde ein sicherer Ort? Niemand kann das angesichts des Irrsinns im dritten Jahrtausend noch hoffen. Die Gewalt eruptiert rund um den Erdball - erniedrigt, metzelt, vertreibt Hunderttausende Menschen. Doch wir, in der Noch-Komfortzone, diejenigen, die das Glück hatten, dass ihr selbsterhaltendes Urvertrauen nicht schon im frühen Kindesalter von Müttern oder Vätern zerstört wurde, wir wähnen uns in einem Kokon der Sicherheit. Ein Irrtum, den wir nicht aufgeben möchten.

Dennoch ein Irrtum, denn Gewalt ist auch hierzulande allgegenwärtig. Sechs Millionen Straftaten (!) werden jährlich in Deutschland registriert, berichtet Annette Hochhardt vom »Weißen Ring«. Frau Hochhardt leitet eine der bundesweit 420 Außenstellen dieser wohl bekanntesten deutschen Opferhilfeorganisation. Was Menschen einander antun, sie weiß es: überfallen, stehlen, einbrechen, vergewaltigen, verletzten, rauben, misshandeln, stalken, erpressen, betrügen, mobben, ermorden. Glücklicherweise, sagt Frau Hochhardt, seien sie und ihr Team nur relativ selten mit den extremen Facetten der Gewalt konfrontiert. Sie lacht: »Wir sind hier in der Prignitz.« Will heißen: Hier, auf dem flachen Land, wo zwischen Wiesen, Wäldern und Äckern viel Platz ist, ist es schlimm genug, doch nicht ganz so schlimm. Auch dies ein Versuch von Selbstbetrug. Sicher fühlt man sich nur, bis es passiert ist.

Schlimm genug, das bedeutet im Fall der Prignitz: Annette Hochhardt und ihr Team sind bisher nicht in die Lage gekommen, sich um Opfer der großen Kriminalität, des organisierten Verbrechens kümmern zu müssen. Auch Hinterbliebene von Ermordeten zählen kaum zu ihrer Klientel, wird hier doch relativ selten gemordet. Stattdessen begegnen sie den Opfern der alltäglichen Niedertracht, Bosheit, Brutalität, Gemeinheit, Gier, Rachsucht, Herrschsucht oder Dumpfheit - oder auch der schieren Verzweiflung. Den Opfern all der reizenden Gaben, mit denen wir ausgestattet sind oder die wir vom Tisch gegrabbelt haben und die unser Miteinander so friedvoll machen. 30 Opfer von Körperverletzung, Handtaschenraub, Stalking durch den Ex-Partner und immer wieder häuslicher Gewalt hat die Prignitzer Außenstelle im vergangenen Jahr betreut. Doch wer auch immer warum zum Opfer wird, dies erleben die Prignitzer Helfer, der muss mit körperlichen Schäden, finanziellen und seelischen weiterleben. Dessen Sicherheitskokon zerbricht - er wird angreifbar, verletzlich, sein Selbstwertgefühl zutiefst erschüttert. Während Täter, so sie denn gefasst werden, Aufmerksamkeit von Polizei und Justiz, oft auch von der Öffentlichkeit erfahren, bleiben Opfer mit sich allein - so sie keine Hilfe finden.

Hier kommen Annette Hochhardt und ihr Team ins Spiel. Gegründet wurde der »Weiße Ring« bekanntlich 1976 unter anderem von Eduard Zimmermann, dem Moderator der ZDF-Sendung »Aktenzeichen XY… ungelöst«. Der gemeinnützige Verein zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern sowie zur Verhütung von Straftaten e.V. hat in seinen Außenstellen 3200 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer und zählt 50 000 Mitglieder. Als private Bürgerinitiative finanziert er sich konsequent ohne öffentliche Zuschüsse mit Mitgliedsbeiträgen, Spenden, Stiftungen, Geldbußen und Nachlässen. Wie ihr Team arbeitet auch Annette Hochhardt ehrenamtlich beim »Weißen Ring«. Die Außenstelle Prignitz leitet sie seit dem Jahr 2011. Hauptberuflich berät sie Betroffene von häuslicher Gewalt in Parchim.

Ihre eigene Geschichte verschweigt Annette Hochhardt nicht. Sie zu erzählen, ist ihr nicht peinlich. Warum auch? Hochglanzgeschichten sind oft nur erdichtet - Selbstschutz, Blendwerk, schöner Schein. Weiter bringen sie niemanden. Dies also ist ihre Geschichte: eine Kindheit in Thüringen, Fachschulstudium als Erzieherin für Jugendheime. Sie verliebt sich, bringt Tochter Marie zur Welt. Wenn ihr Lebensgefährte trinkt, sind Marie und sie starr vor Angst. 13 Jahre erträgt sie das, bevor sie es schafft, sich zu trennen ...

Versucht sie, mit ihrer Tätigkeit bei der Beratungsstelle in Parchim und ihrem Einsatz beim »Weißen Ring« das Trauma zu bearbeiten? »Nein«, sagt Annette Hochhardt ganz klar, »bevor man anderen helfen kann, muss das abgeschlossen sein.« Man glaubt ihr das unbesehen. Hätte sie nicht preisgegeben, selbst einmal Opfer gewesen zu sein, man hätte es nicht für möglich gehalten bei dieser selbstbewussten Frau.

Manche Opfergeschichten gehen gut aus. Wie die von Annette Hochhardt. Sie liegt inzwischen Jahre zurück. Tochter Marie ist jetzt 27, Frau Hochhardt hat vor wenigen Tagen ihren 49. Geburtstag gefeiert. Mit Freunden und ihrem Ehemann, den sie über Facebook kennenlernte und der extra ihretwegen aus dem Rheinland in die Prignitz gezogen ist. Annette Hochhardt erzählt von den Schafen, die sie sich gemeinsam angeschafft haben, »damit sie uns draußen ein bisschen helfen«, und von den Tannen vor ihrem Haus in Prorep, die sie Ende des Winters gefällt haben, weil sie zu groß geworden waren und ihnen zu viel Licht wegnahmen. Wo sie standen, soll »nun was Buntes hin«. Bunt sei es auch in ihrem Heim, jedes Zimmer in einer anderen Farbe, in den Zimmern bunt gestrichene Möbel - eine kunterbunte, fröhliche Frau. Offen, kontaktfreudig, interessiert an Gesellschaft und Politik. Zum Geburtstag hat man ihr Michel Houellebecqs »Unterwerfung« geschenkt. Den Roman hat sie sich gewünscht, »was Seichtes«, sagt sie, »interessiert mich nicht«.

Dass sich Menschen, die Opfer wurden, später beim »Weißen Ring« engagieren, dürfte keine Seltenheit sein. Erhebungen darüber gibt es nicht, doch bekannt ist ein prominenter Fall: der des Millionärssohns Richard Oetker. 1976 war er entführt, 48 Stunden lang in einer für seine Körpergröße viel zu kleinen Kiste gefangen gehalten und schwer verletzt worden, was ihm eine lebenslange Gehbehinderung eintrug. Er ist Vorstandsvorsitzender der »Weiße Ring Stiftung«. Annette Hochhardt allerdings hatte noch einen anderen Grund als die eigene Leidensgeschichte, sich dem »Weißen Ring« anzuschließen. Ihre hauptberuflichen Arbeit hat sie gelehrt, dass die Opferhilfe in Deutschland »nicht besonders viel Aufmerksamkeit erfährt, es zu wenig Beratungsstellen gibt, die zudem chronisch unterfinanziert sind«. Der »Weiße Ring« fülle eine Lücke, obwohl auch er »nur Pflaster klebt«: »Unsere Partner bei der Polizei verweisen hilfsbedürftige Opfer an uns, wir übernehmen die Erstversorgung, um sie dann in die hauptamtliche Versorgung zu vermitteln.«

Der erste Fall, bei dem Annette Hochhardt ehrenamtlich Hilfestellung gab, ging zurück - auf den Biss eines Hundes. Eine Frau war von einem freilaufenden Hund angegriffen worden und hatte Angst vor Hunden entwickelt. Annette Hochhardt hat mit ihr den Antrag auf Opferentschädigung gemäß dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) ausgefüllt und darin auf die psychischen Folgen verwiesen. Unser Gespräch nutzt sie als Gelegenheit, auf das Engagement des »Weißen Rings« für den Ausbau dieses Gesetzes hinzuweisen, das Opfern eine Rente ermöglicht, die auf Sozialleistungen nicht angerechnet werden darf. Keine Woche ist es her, dass der »Weiße Ring« an seinem jährlichen bundesweiten Aktionstag forderte, den Anwendungsbereich des OEG auf alle Fälle psychischer Gewalt zu erweitern. So soll künftig auch Stalking als Tatbestand aufgenommen werden. Ebenso der Wohnungseinbruch, denn obwohl in diesem Fall kein vorsätzlicher tätlicher Angriff gegen eine Person vorliegt, so werde dabei doch erheblich das für die Lebensqualität des Opfers wichtige Sicherheitsgefühl verletzt - der Kokon. Nicht alle Opfergeschichten gehen gut aus. Deshalb, um die rechtliche und soziale Situation von Geschädigten zu stärken, war am 22. März auch das Prignitzer Team im Einsatz.

Nun ist es ja im Land von »Tatort«, Gerichtsshows und Psychodokus kaum noch neu, was Frau Hochhardt erzählt: Für viele Opfer ist nach der Straftat nichts mehr, wie es vorher war. Sie leiden an seelischen Traumata - trauen sich nicht mehr aus dem Haus, haben Flashbacks, stumpfen ab, sind schreckhaft, reizbar, nervös, haben Angst, schlafen kaum, werden von Albträumen geplagt, von Herzklopfen, Magen-Darm-Beschwerden, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. Dann brauchen sie dringend den Beistand, den Strafverfolgungsbehörden nicht geben. Sie brauchen jemanden, der ihnen zuhört, sie ernst nimmt, ihnen Glauben schenkt, sie zu den nötigen Terminen bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht begleitet, ihnen bei weiteren Behörden hilft, gegebenenfalls Anwaltskosten übernimmt, sie unterstützt, wenn es finanzielle Notlagen zu überbrücken gilt. All das machen Annette Hochhardt und ihr Team. Sie sind sozusagen die Opfer-Bereitschaft.

Wobei sie selbst auch Opfer bringen. Was sie so nicht ausdrücken möchten. Wenn Annette Hochhardts Handy klingelt, checkt sie umgehend, welcher Mitarbeiter für den Fall am besten geeignet ist - die Krankenschwester, der Manager, der Kämmerer oder der Mitarbeiter eines Jobcenters. Schön, wenn der Betreffende in der Nähe des Opfers wohnt, denn mehrere Hausbesuche sind nötig und die Wege weit in der Prignitz. Zuzüglich der Zeit für die Teamberatungen gibt jeder Einzelne etliche Stunden an die ehrenamtliche Tätigkeit, in denen er Möbel anstreichen oder Briefmarken sammeln könnte. »So denken wir nicht«, sagt Annette Hochhardt, »würden wir nicht helfen, wer täte es sonst?« Für die Prignitz wünscht sie sich »mehr Traumatherapeuten in der Fläche. Es gibt Gründe herzuziehen: Es ist schön bei uns, man kann hier gut leben«.

Auf deutschen Schulhöfen, auch in der Prignitz, drücken Kinder einander den Spruch »Du Opfer!«. Selbst wenn sie nicht wissen, was sie tun, wirft dieser Spruch, der Opfer verhöhnt, doch ein Schlaglicht auf unsere Kultur. Das Opfer genießt kein Ansehen in der auf Stärke getrimmten Gesellschaft. Es ist schwach, ein Versager - Opfer eben. Niemand möchte Opfer sein.

Dennoch sind auch die Täter oft genau dies. Wer in der Kindheit Gewalt erlebt, lernt am Beispiel. Deshalb, so Annette Hochhardt, sei Prävention in Schulen so wichtig: Kindern und Jugendlichen müsse gezeigt werden, dass sie sich anders entscheiden können. In Bund, Ländern und Kommunen werde für die Kriminalprävention pro Jahr und Bürger freilich nicht mal ein Euro ausgegeben. Hochhardt nennt das ein »Armutszeugnis«.

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