Immer schön mit der Ruhe

Bei der Schiffspassage auf dem Göta-Kanal ist der Weg das Ziel. Von Nicolas van Ryk

  • Nicolas van Ryk
  • Lesedauer: 6 Min.

In Söderköping gehen noch ein paar Passagiere an Bord. Von Stockholm ist das hundertjährige Dampfschiff entlang der Schärenküste in den Slätbaken-Sund bis nach Mem gefahren. Von dort hat sich die »Tham« in den Göta-Kanal gefädelt. Das ist der über 180 Jahre alte Wasserweg, der die Ost-West-Passage durch Südschweden erst ermöglicht und die Hauptstadt Stockholm an der Ostsee mit Schwedens zweitgrößter Stadt, Göteborg, am Kattegat verbindet. Dazwischen liegen mehr als 500 Kilometer Wasser- und Seeweg. 220 Kilometer entlang der Ostseeküste, 93 Kilometer an der Westflanke mit dem Fluß Göta älvazar und dem Trollhätte-Kanal, 104 Kilometer über Seen. Doch 87 Kilometer dazwischen mussten erst einmal geschaffen werden. Und zwar von Hand. 22 Jahre lang, von 1810 bis 1832, gruben sich 58 000 Soldaten durch das Erdreich von Östergötland und Västergötland.

Gleich hinter Söderköping ist zu spüren, was das Mamutprojekt damals bedeutete: Die Schiffe müssen bergauf fahren. Bis zum vier Kilometer entfernten Carlsborg sind acht Schleusen zu passieren. Es sind enge Wasserbecken, die Kapitän Albert Häkanson navigierendes Fingerspitzengefühl abverlangen. Mit vertauten Birkenholzfendern an den Schiffsflanken geschützt, fummelt sich die »Tham« in die knapp über sieben Meter breite Schleuse. Wenig mehr als ein Finger breit liegen zwischen Schiffsstahl und Schleusenwand. Von außen betrachtet, scheint die »Tham« auf dem Trockenen zu liegen. Der Kanal ist mehr Weg als Wasser. So geht das 58 mal auf einer Strecke. Insgesamt 91,8 Meter geht es hinauf und am Wendepunkt am Vikensee bei Forsvik wieder hinab. Mittendrin müssen die Schiffe regelrecht Treppen steigen. Berg hat sieben Schleusen unmittelbar hintereinander und Borenshult immerhin fünf als Stufenstaffel.

Auch 50 Brücken machen das Befahren des Kanals nicht einfacher. Einige davon müssen sogar geöffnet werden und weitere zwei sind Trogbrücken. Da ist der Kanal gewissermaßen in eine Wanne gezwängt, um die darunter liegende Straße zu überqueren. Sonst ist der Kanal zwar um einiges breiter gegraben, aber nicht besonders tief. Der maximale Tiefgang liegt bei 2,82 Meter und wegen der Schleusen dürfen die Schiffe höchstens 30 Meter lang sein. Weil es auf dem Kanal so seicht und eng zugeht, sind die Passagierschiffe entsprechend gebaut. Die »Tham« könnte zwar mit ihren zwei 400-PS-Volvo-Penta-Dieselmotoren schneller fahren, doch es darf nicht zu schnell gehen, weil der entstehende Wellengang den Kanal überschwappen lassen würde. Fünf Knoten (sieben km/h) beträgt die Höchstgeschwindigkeit. So kann der Passagier mal neben der Spur sein und am baumgesäumten Treidelgang entlang des Kanals das Schiff bei voller Fahrt im Spaziergang von außen betrachten.

Auf dieser Ost-West-Passage geht es geruhsam zu. Es fliegen keine Landschaften an einem vorbei. Eher kommt die Landschaft zu einem. Das leicht gehügelte Land mit seinen rot und gelblich angemalten Holzhäusern erfüllt in hohem Maße das Klischeebild von Schweden. Kornfelder säumen die Ufer, Wälder die Seen. Bei der Überfahrt durch den Vättern-See zwischen Motala und Karlsborg kommt richtiges Nordmeergefühl auf. Die Steuerbord- und Backbordseite wird nicht mehr vom nahen Kanalufer begrenzt. Es öffnet sich ein kilometerlanger Blick bis Wasser und Wolken in den Weiten des Sees verschwimmen. Die Abendsonne verschwindet erst hinter lichtbrechenden Schwaden und versinkt dann rot aufglühend im fernen Horizont. Nur wenn das Schiff bei mittlerer Brise über den noch größeren Väner-See stapft, sollte man nicht unbedingt essen gehen. Bedingt durch den seichten Tiefgang kann die »Tham« dann ähnlich einem schwimmenden Schuhkarton ins Schaukeln kommen.

Immer wieder ist der Kanal eine Wasserallee begrenzt von alten Kastanien, Buchen oder Eichen. Einige davon sind in die Jahre gekommen und müssen erneuert werden. Die Kanalverwaltung bietet für 230 Euro Baumpatenschaften an. Damit kann sich jeder zahlungswillige Gast mit einer kleinen Namenstafel ein Denkmal in Schweden setzen.

In Motala wurde Graf Baltzar von Platen, der Initiator des Kanals, 1829, drei Jahre vor dessen Eröffnung begraben. Graf Baltzar war ein aus dem damals zu Schweden gehörenden Pommern stammender Landadliger. Auf der Insel Rügen 1766 als Gouverneurssohn geboren, brachte er es in seiner Karriere zum damals auch zu Schweden gehörenden Reichsstatthalter von Norwegen. Er liebte Kanäle und Wasserwege, war geradezu in sie versessen. Er sah darin Lebensaufgabe, Hobby und Berufung zugleich. Und er hatte die nötige politische Protektion für die Verwirklichung dieses Projekts, das die heutigen schwedischen Touristiker und Landschaftsplaner zum »Schwedischen Bauwerk des Jahrtausends« ernannt haben. Der Göta-Kanal war sein Großprojekt mit schon damals hohen Kosten und langer Bauzeit, das nur mit dem politischen Rückenwind der einflussreichsten Kreise bis hin zum Königshaus umgesetzt werden konnte.

Die Megagrabung sollte aber nicht nur persönlichen Ehrgeiz und herrschaftliche Bauwünsche befriedigen, sondern sich auch wirtschaftlich rechnen. Mit dem Kanal wollte man den Sundzoll umgehen, den die Dänen für die Befahrung des Öresunds - also die Umseglung Südschwedens - seit 1429 erhoben. Nach 22 Jahren Bauzeit wurde der Kanal fertig. Für ganze 25 Jahre hat er sich dann rentiert. Denn 1857 wurde der Öresund-Zoll abgeschafft und die aufkommende Eisenbahn machte den Kanal völlig überflüssig und zu einem Luxus, der sich nicht mehr rechnete.

Heute rechnet er sich nicht nur für die Tourismuswirtschaft, sondern vor allem für die Touristen: Denn Langsamkeit ist der Luxus des Kanals. Der Weg das Ziel. Zeit an Bord wird neu bewertet. Fernsehen, Radio, Internet, Wifi und Wireless gibt es nicht. Passend dazu das Essen, Slow-Food eben. Die Köche Lars Eklund und Jungkoch Eric Frenning zaubern aus der verschachtelten Kombüse ein wohlschmeckendes Anti-Diät-Programm. Selbstgebackenens, frisches Brot und gute Weine werden zum Essen gereicht. Das Frühstücksbuffet ist üppig, mittags und abends gibt es drei Gänge. Selbst gemachte Elchhackfleischtürmchen, Fischsuppen, gegrillte Saiblinge und Parfaits werden mit dem Speiseaufzug aus dem Schiffsbauch gehievt. Und die Torten zum Nachmittagstee sind ein Gedicht aus Sahne und Baiser.

Das wissen auch die Kinder von Forsvik. An der ältesten Schleuse aus dem Jahre 1813 gibt es ein frommes Stelldichein. Henry Kindbom und seine Enkel, Söhne, Töchter und Onkels aus dem Familienclan besingen Schiff, Mann, Maus und Passagier, segnen die Durchreisenden und verteilen fromme Botschaften. Das macht die am Schleusenhäuschen versammelte Familie seit einigen Generationen. Anschließend werden die Kindboms zu Kaffee und Kuchen auf das Schiff eingeladen.

1912 wurde die »MS Wilhelm Tham« in Motala gebaut. Benannt ist sie nach dem 1911 gestorbenen ehemaligen Direktor der Husqvarna Vapenfabriks, die heute unter anderem als Hersteller von Kettensägen bekannt ist. Die Provinzstadt Motala ist Sitz der Kanalgesellschaft, die zwei weitere historische Freizeitschiffe pendeln lässt. Es sind die fast baugleichen Schiffe »Diana« aus dem Jahre 1931 und die 1874 vom Stapel gelaufene »Juno«, die eines der ältesten im Dienst stehenden Passagierschiffe der Welt ist. »Es ist keine Lady, sondern ein Gentleman«, frohlockt Kapitän Häkanson beim abendlichen Dinner über seine »Wilhelm Tham«. Seit 100 Jahren von Mitte Mai bis Anfang September schippern der feine Herr und seine beiden Schwestern als weiß getünchte Oldtimer durch die Seenlandschaft Süd- und Mittelschwedens. Im Winter ruht der Verkehr und der Kanal ist eine lange zugefrorene Schlittschuhbahn.

Wenn die »Tham« langsam über eine der beiden Trogbrücken fährt, offenbart sie ihre wahre, stille Schönheit. Der Schornstein ist zwar seit dem Einsatz der Dieselmotoren überflüssig, doch er strukturiert das Schiff. Vorne befinden sich 30 Doppelkabinen auf drei Decks. Die mittlere Kabinenetage liegt auf dem Niveau des Speisesaals und des Aufenthaltsraumes. Die Kabinen sind eng, Duschen befinden sich auf dem Gang. Zum Glück wurde die »Tham« bei der jüngsten Renovierung 2003 nicht umgebaut, sondern in ihrer historischen Gestalt erhalten. Die Beschaulichkeit und Intimität der »Tham« wirkt schnell. Fremde kommen sich rasch näher, und niemand geht verloren, wenn jemand mal beim Ende des Landgangs die Schiffssirene überhört.

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