»Gläsern flimmernde, unwirklich klare Luft«

Hanns Zischler erzählt von Fremdheit und Freundschaft, von Sehnsucht und einer Trauer, die bleibt

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Wo findet man noch Prosa, die so im Schweben bleibt? Wer wagt es noch, Lesern gegenüberzutreten, ohne zugespitzte Konflikte und Pointen in der Tasche zu haben? Was verbindet Hanns Zischler, Schauspieler, Fotograf, Publizist, mit dem jungen Mädchen Elsa, die Mitte der 50er Jahre mit ihrem Vater aus Dresden nach Bayern kam? Woraus kam der Anstoß für seinen ersten literarischen Text? Nicht von ungefähr steht am Beginn ein altes Rätsel. Es ist nicht schlimm, wenn es der Leser nicht gleich löst. Die besten literarischen Texte sind wie ein tiefes Meer. Man kann darin schwimmen, man muss nicht bis zum Grund hinabtauchen, zumal es da dunkel ist und kalt. Aber man spürt die Tiefe wohl.

Wie gesagt, Elsa Wyborny (slawischer Name), das Mädchen aus Sachsen verschlug es nach Bayern, einmal kommen sogar die drei Buchstaben SBZ im Buch vor, aber um die deutsche Teilung geht es hier viel weniger, als man vermuten durfte. Und die Fremdheit, die es wohl gibt, wird nicht zelebriert. Mögen die Alpen den Ort Marstein auch in monumentaler Fremdartigkeit überragen - »Elsa findet hier keinen Halt. Alles stürzt.« - , erlebt sie doch allenthalben Freundlichkeit. Zu Beginn der Geschichte schon bei der Gemüsefrau: Die sammelt für sie die zarten »Orangenpapiere«. Wer kennt die heute noch, da die Apfelsinen meist in Plaste gebettet sind, und, wenn ja, wem sind die bunten Bilder darauf aufgefallen. Elsa interessiert sich dafür, sie hat eine ganze Sammlung solcher zarter Papierchen.

»Fruitwrappers« nennt Saskia sie. Saskia Rigby ist für einige Zeit mit ihren Eltern aus England nach Deutschland gekommen, am Schluss muss sie zurück. Und Pauli Asam, zu dem sich eine zarte Liebe entspinnt, wunderschön diese Seiten, liegt mit einem Schädelbruch im Krankenhaus. »Draußen hat es wieder zu schneien begonnen. Mit der einsetzenden Dämmerung fallen die ersten dicken Flocken durch die gelben Kegel der Straßenlaternen. Wie eine fadenscheinige Gardine wirbelt das Schneegewebe durch die Luft ...« - Eine ganze Seite noch geht es so weiter - mit dem, was Elsa sieht, wenn sie aus dem Fenster schaut. Dieser Blick Elsas, des Autors ist etwas Besonderes. Nicht so flüchtig, wie es üblich ist in unserer alltäglichen Hast. Es ist ein stilles Beobachten, ein Eintauchen fast. Dabei gibt es auch allerhand Erlebnisse, die zu beschreiben sind. Die Schule im Schloss hat nicht nur hektische Appelle des Direktors zu bieten, sondern auch einen so gutherzigen nachdenklichen Lehrer wie den Herrn Kapuste, der alles versteht.

Elsa hat ein Hüftleiden, sie hinkt. In der Bibliothek spricht sie mit Kapuste über Robinson Crusoe. »Schmerzt es?«, fragt er und tut so, als ob er bloß die Hüfte meinte. Dabei weiß er: Elsa hat ihre Mutter verloren. Nicht beim Bombenangriff auf Dresden, wie man vielleicht annehmen könnte, sondern durch eine Krankheit. Dazu gibt es im Buch nur wenige, verstreute Sätze. Aber ist nicht die Mutter überall - sogar in den Orangenpapieren? Wie sich Trauer verbirgt, davon handelt dieser Text in seiner leisen, melodischen und genauen Sprache.

»Gläsern flimmernde, unwirklich klare Luft« - Stille, die in uns lebt, das Wichtige in einem Haufen von Unwichtigkeiten.

Hanns Zischler: Das Mädchen mit den Orangenpapieren. Galiani Berlin. 109 S., geb., 16,99 €.

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