Das Leiden als industrielles Produkt

Wissenschaftler kritisieren die Erfindung von Krankheiten als Ressourcenverschwendung im Gesundheitssystem

  • Lesedauer: 3 Min.

Berlin. Burnout, chronische Migräne, Wechseljahre des Mannes - werden mit diesen Beschwerdebildern tatsächlich Krankheiten erfasst oder neue Krankheiten frei erfunden? Werden soziale Probleme zu Krankheiten umgedeutet? Über den Drahtseilakt zwischen überflüssiger Medikalisierung und notwendiger Therapie diskutierte kürzlich der Deutsche Ethikrat auf einer Veranstaltung der Reihe »Forum Bioethik« in Berlin.

Die zuverlässige Diagnostik von Krankheiten ist der Ausgangspunkt für eine zielgerichtete Therapie, heißt es dazu in einer Zusammenfassung des Ethikrates. Patienten sollten in ihrem eigenen Interesse nur behandelt werden, wenn eine Erkrankung tatsächlich vorliegt und es Therapien gibt, die sie verhindern, heilen oder Symptome lindern. Doch was als Krankheit betrachtet und behandelt wird, hängt nicht nur von medizinischen Fakten ab. Auch kulturelle und wirtschaftliche Faktoren können eine Rolle dabei spielen. Manche Krankheiten gerieten so geradezu in Mode.

Die Geschichte der westlichen Medizin sei reich an »Modekrankheiten«, die nicht nur unter Ärzten, sondern auch in der Bevölkerung bereitwillig aufgenommen werden, stellte Michael Stolberg von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg in seinem Referat über Krankheitsmoden im Wandel der Zeiten fest. Diese Beschwerden seien in Indiz dafür, dass die Wahrnehmung, Deutung und Erfahrung von Krankheit stets und unausweichlich auch vom jeweiligen historischen und kulturellen Kontext geprägt sei.

Gisela Schott von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft kritisierte in ihrem Referat, dass normale Prozesse des Lebens als medizinisches Problem definiert, neue Krankheitsbilder durch Werbemaßnahmen geradezu erfunden, leichte Symptome zu Vorboten schwerer Leiden stilisiert und Risiken als Krankheit verkauft würden. Dies habe unter anderem zur Folge, dass die Betroffenen im Rahmen einer Medikation einem unnötigen Risiko ausgesetzt seien und gleichzeitig Ressourcen des Gesundheitssystems verschwendet würden. Die Politik sieht sie in der Pflicht, die Werbung für Arzneimittel strenger zu regulieren und verstärkt die unabhängige Forschung zu fördern. Auch die Bürger müssten sich aktiv informieren.

Thomas Schramme von der Universität Hamburg beklagte die drohende Ausweitung des Krankheitsbegriffs. Es werde nicht unterschieden zwischen der Abwesenheit von Krankheit als Mindestkriterium für die Gesundheit und der idealtypischen bestmöglichen Gesundheitsdisposition. Hier gelte es, begriffliche Klarheit zu schaffen und zwischen tatsächlich pathologischen Phänomenen und medizinisch normalen Zuständen zu differenzieren. Darüber hinaus stellte Schramme die Funktion des Krankheitsbegriffs für die Entscheidung über die solidarische Finanzierung von Therapie infrage.

Welche Folgen hat die Beschreibung immer neuer Krankheitsbilder? Eine Orientierung von Behandlungsentscheidungen an bloßen Laborwerten führe dazu, so Lothar Weissbach von der Stiftung Männergesundheit, dass aus zuvor gesunden Menschen Behandlungsbedürftigte gemacht würden, ein grenzwertiger Befund eine Überdiagnose und Übertherapie nach sich ziehe. Boris Quednow von der Universität Zürich warnte vor Krankheitsmoden in der Psychiatrie, die wie beim Burnout dazu führen könnten, dass gesunde Menschen unnötig behandelt werden. Andererseits bestehe das Risiko, dass Menschen, die an einer schweren Depression leiden, eine falsche Diagnose bekommen. Der Autor und Mediziner Jörg Blech und die die Ärztin Christiane Fischer Pharmaunternehmen, medizinische Interessenverbände und PR-Agenturen aus, die neue Leiden erfänden und zum Industrieprodukt machten. dgim/ott

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