Nach der Schicht ins Kellerbett

Auch im wohlhabenden Hamburg sind viele arm - etwa Kinderreiche und Alleinstehende

  • Volker Stahl
  • Lesedauer: 8 Min.
Armut wird in Deutschland wenig wahrgenommen und wenn, dann heißt es, die Verhältnisse seien ja andernorts noch viel schlimmer. Das liegt auch daran, dass Arme sehr häufig nicht wählen gehen.

»Armut ist in einem reichen Land wie Deutschland relativ.« Das Zitat stammt von der ehemaligen Familien- und jetzigen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU). Und Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) spricht davon, dass die Kriterien zur Armuts- und Reichtumsstatistik des Bundes eine Nachjustierung brauchen, weil Armut in Deutschland und Armut in Lateinamerika halt nicht dasselbe sei.

Fakt ist: Solche Überlegungen spielen die durchaus existenziellen Probleme armer Kinder und Jugendlicher in Deutschland herunter. Vielleicht meint Ursula von der Leyen, dass es ihren eigenen sieben Kindern, die wohlbehütet und ohne finanzielle Sorgen aufwachsen, »relativ« besser geht als anderen Jugendlichen. Was ist aber mit den anderen?

In den Kreisen, in denen sich die Tochter des ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten und ihre Kinder bewegen, wird Armut kaum wahrgenommen, man hat allenfalls mal davon gehört. Deshalb muss man sich nicht wundern, dass die Meinung weit verbreitet ist, Kinder seien nicht arm, wenn die Haushalte, in denen sie leben, lediglich mit weniger Geld als der Durchschnitt der Bevölkerung auskommen müssen. Und für die wirklich finanziell Schwachen sorge bekanntlich der Staat mit seinen Leistungen. So denken viele. In Anbetracht einer solchen Schönfärberei muss man sich nicht wundern, dass auch die finanziell gut ausgestattete Schicht der Regierenden das Armutsproblem nicht wahrnimmt. Wie anders ist zu erklären, dass in dem Koalitionsvertrag der derzeitigen Bundesregierung auf 185 Seiten das Wort »Kinderarmut« an keiner Stelle auftaucht?

Das Wort »Kinderarmut« fehlt im Koalitionsvertrag

Es gibt sie aber. Zu einem alarmierenden Ergebnis kommt die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung. Eine aktuelle Studie - nachzulesen auf dem Internetportal »boeckler.de«, Stichwort: Kinderarmut - belegt, mit welchen Entbehrungen die »relative« Einkommensarmut in Deutschland für Kinder verbunden ist. Urlaubsreisen können sich diese Kinder und Jugendlichen nicht leisten, oft nicht einmal Winterkleidung, viele leben in feuchten Wohnungen. »Leistet sich der Haushalt eine Sache, dann reicht es an anderer Stelle nicht«, beklagt die Studie.

Eine Erfahrung, die Mona W. (37) tagtäglich macht. Die Mutter von fünf Kindern hat nicht nur wenig Geld, sondern auch noch ein akutes Wohnungsproblem. Die Familie lebt in einem Siedlungshaus aus den 1970er-Jahren direkt an der Autobahn im Stadtteil Stellingen. Das in einer Sackgasse gelegene Reihenhaus, an dem man die Autos auf der A 7 unmittelbar vorbeirauschen hört, hat vier Zimmer, in denen die Mutter mit Marco (20), Chantal (17), Jaheem (8), Jameela (5) und Alia (4) auf 74 Quadratmetern lebt. Das funktioniert nur, wenn man Kompromisse macht: Die 37-Jährige schläft im Wohnzimmer. Marco, der Schichtdienst im Hafen schiebt, übernachtet im Keller.

»Als ich vor vier Jahren mit Alia schwanger war, war ich froh, überhaupt eine Wohnung bekommen zu haben«, sagt die gelernte Altenpflegerin. Das klappte aber nur, weil ihre damalige Schwiegermutter für die Familie das Haus kaufte, in dem sie heute für 900 Euro Warmmiete lebt. Als Mona und ihr Lebensgefährte, der Vater der drei jüngsten Kinder, sich vor zwei Jahren trennten, kündigte die Schwiegermutter ihr umgehend die Wohnung. »Das Gericht hat die Kündigung aber abgeschmettert«, sagt Mona W. Ausziehen will sie trotzdem - wegen des heiklen Mietverhältnisses und der bevorstehenden Bauarbeiten, die mit einem Höllenlärm verbunden sein werden. Denn dort, wo jetzt ihre kleinen Kinder durch den Garten tollen, beginnen bald die Bauarbeiten an der vierten Spur der zu überdeckelnden A 7, die sich dann einige Meter in den Garten frisst. »Das heißt jahrelang Baulärm und entlang donnernde Schwertransporter«, seufzt Mona W.

Baulärm und Schwertransporter vermiesen das Wohnen

Die Chance, bald eine neue Bleibe zu bekommen, sei sehr gering, weil ihr die ARGE den Dringlichkeitsschein verweigere. »Sie haben doch eine Wohnung«, lautet das Argument. Auf dem freien Immobilienmarkt, das weiß die verzweifelte Mutter, hat sie keine Chance. Wenn sie sich doch mal vorstellt und erzählt, dass sie alleinerziehend ist und fünf Kinder hat, bekomme sie unverblümt zu hören, dass das ja wohl »nicht so optimal« sei: »Oder der Makler sagt: Ich frage mal den Vermieter. Und dann hört man nie wieder was.« Und Angebote vom Wohnungsamt: Fehlanzeige!

Auch bei der städtischen SAGA GWG hat die Familie derzeit keine Chance. Dort werden ihr alte Schulden für eine nicht bezahlte Auslegeware in einer früheren Wohnung vorgehalten. Die müsse sie erst bezahlen, dann komme sie auf die Liste der Wohnungssuchenden. Doch woher das Geld nehmen? »Dabei habe ich vor sieben Jahren Privatinsolvenz angemeldet und bin seit zwei Jahren schuldenfrei«, sagt Mona W., »darunter fällt doch auch der Betrag, den ich der SAGA geschuldet habe.« Große Ansprüche an ihr neues Zuhause hat sie nicht: »Wir würden überall hinziehen, sogar in die schlimmste Ecke.« Eines ärgert sie aber doch: »In der gesamten Stadt wird wie wild gebaut, aber fast nur Eigentumswohngen. Darauf muss der Senat doch mal reagieren!«

Neben Alleinerziehenden und Migranten haben es vor allem Studenten schwer, eine bezahlbare Bude zu finden. »Ohne die finanzielle Unterstützung durch die Eltern ist eine eigene Wohnung meist nicht drin, höchstens ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft«, sagt Jurastudent Christoph Marotzke. Der 23-Jährige berichtet von einem Freund, der in Stellingen für eine 38 Quadratmeter große Zweizimmerwohnung 750 Euro bezahlt und vorher drei Monate in Jugendherbergen verbracht hat: »Dort hat er von Dienstag bis Freitag geschlafen, am Wochenende ist er dann nach Hause in sein Dorf nach Bremen gefahren.« Manch einem ergehe es noch schlechter. Besonders Studienanfänger, die neu in der Stadt seien, hätten enorme Probleme, eine Bleibe zu finden, sagt Marotzke: »Man hört Geschichten von Leuten, die hierher ziehen und WG-Hopping betreiben oder sogar in Turnhallen übernachten müssen.«

Alleinerziehende, Migranten und Studenten haben es auf dem Wohnungsmarkt besonders schwer

»Armut, vor allem die von Kindern, Jugendlichen, Studenten, gibt es in unserer Stadt mehr, als manch ein Politiker glauben mag«, lautet die übereinstimmende Feststellung des Mietervereins zu Hamburg und des Sozialverbands Deutschland (SoVD), Landesverband Hamburg. Die Mitarbeiter beider Einrichtungen werden täglich mit den Sorgen und Nöten zahlreicher Rat suchender Bürgerinnen und Bürger konfrontiert. »Das mit Abstand höchste Armutsrisiko, nämlich 84 Prozent, haben kinderreiche Familien mit ausländischen Wurzeln«, rechnet der Göttinger Soziologe Peter Bartelheimer vor. An zweiter Stelle sind mit 26 Prozent Alleinerziehende armutsgefährdet. Erschreckend ist, dass in Hamburg 46 Prozent der Alleinerziehenden mit zwei und mehr Kindern zu dieser Gruppe zählen.

Zu Unrecht werde oft unterstellt, betont der Berliner Soziologe Martin Kronauer, dass Armut selbst verschuldet sei. Tatsächlich sei zu fragen, ob das Armutsphänomen nicht auf einem Versagen der Gesamtgesellschaft beruhe. Man dürfe die Augen nicht davor verschließen, dass es vielen Mitmenschen gar nicht möglich sei, aus der Armutsfalle zu entkommen - sei es durch geringe Bildungschancen, durch persönliche Schicksalsschläge oder durch Benachteiligungen auf dem Wohnungsmarkt, unter der besonders Migranten litten.

Die Situation der Betroffenen werde sich nur dann verbessern, wenn die Politik endlich auf die Missstände reagiere, sagt Klaus Wicher vom Sozialverband: »Zunächst einmal muss es endlich einen eigenständigen, bedarfsgerechten, also der Wirklichkeit entsprechend nach oben angepassten Regelsatz geben.«

Auch Andrea L. aus Langenhorn sucht eine neue Bleibe. Die Chancen der 47-Jährigen, für sich und ihren Sohn Sebastian (9) eine neue Bleibe zu finden, sind etwas besser als die von Mona W. Zwar ist auch die Fachangestellte in einem Anwaltsbüro alleinerziehend, aber sie verfügt als Erwerbstätige über ein Einkommen, von dem sie bis 600 Euro Miete abzweigen kann: »Wir können uns aber schon heute keinen Urlaub leisten, außerdem ist ein neuer Kühlschrank fällig und die Klassenreise für meinen Sohn muss auch bezahlt werden.« Aktuell bezahlt sie für ihre 55 Quadratmeter große 2,5-Zimmer-Wohnung in der Wulffschen Siedlung 548 Euro warm. »Ich würde gerne bleiben, aber die Gesundheitsgefährdung durch Schimmelbefall lässt das leider nicht zu.« In allen Räumen der Wohnung »blüht« es an den Wänden, Schimmelsporen wabern durch die Luft: »Als ich auch noch Ausblühungen auf der Rückseite der Kommode im Kinderzimmer entdeckt habe, stand mein Entschluss fest: Wir müssen hier raus!«

Bindehautentzündung durch Schimmel

Seit dem Einzug leidet ihr Sohn unter roten Augen, Juckreiz und Bindehautentzündungen, die mit Cortison behandelt werden. »Die Ärzte haben zuerst eine Allergie vermutet, aber alle Tests sind negativ«, sagt die Mutter, »deshalb wollen wir möglich schnell umziehen.« Leichter gesagt als getan. Obwohl sie einen Job hat und zusammen mit Kindergeld und Alimenten einigermaßen über die Runden kommt, ist sie jedes Mal enttäuscht, wenn sie auf Immobilienportalen ein Wohnungsgesuch für zwei bis drei Zimmer in Langenhorn oder einem benachbarten Stadtteil für höchstens 600 Euro eintippt. »Da kommt meistens gar nichts, das ist sehr frustrierend.«

Am Ende scheitert die Verbesserung der Lebenssituation meist am Geld. »Vielleicht vernachlässigt die Politik Kinder und Jugendliche, weil sie - meist Nichtwähler - uninteressant sind«, mutmaßt der Mietervereinsvorsitzende Dr. Eckard Pahlke, »dabei sollte allen bewusst sein, dass sie die Grundlage einer guten gesellschaftlichen Entwicklung bilden.« Das Argument, es fehle das Geld, lassen Mieterverein und SoVD nicht gelten. Die »Schwarzbücher« des Bunds der Steuerzahler belegen jährlich, welch immenses Vermögen die Stadt für unsinnige Projekte »verplempert«. Geld wäre da, man muss es nur gezielt für die Jugend einsetzen.

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