Zwischen zwei Zügen

Breslau - Dresden - Döbeln - Görlitz - Breslau - Ravensbrück - Berlin - Döbeln: Eine Odyssee im Jahr 1945

  • Werner Micke
  • Lesedauer: 11 Min.

Das Kriegsende erlebte ich gewissermaßen zwischen zwei Zügen, die beide in die spätere Bundesrepublik fuhren. Aus beiden stieg ich zuvor aus.

Der erste Zug war am 30. Januar 1945 einer der letzten aus Breslau. Die Front war meiner zur Festung erklärten Heimatstadt schon so nahe, dass man den Geschützdonner hörte. Der Hauptbahnhof war mit Tausenden von Menschen überfüllt. Die Angst, nicht mehr rechtzeitig davonzukommen oder - bei einer Flucht zu Fuß - auf vereisten Straßen zu erfrieren, drohte in Hysterie umzuschlagen.

Der Autor

Werner Micke hatte Glück im Unglück: Er war ein paar Wochen zu jung, um gegen Ende des Zweiten Weltkriegs noch vom Volkssturm verheizt zu werden. 1930 geboren und aufgewachsen in Breslau (Wroclaw), floh seine Familie Anfang 1945 vor der heranrückenden Front. Ein paar Jahre später kam Werner Micke nach Berlin. Viele Jahre arbeitete er als außenpolitischer Redakteur bzw. stellvertretender Chefredakteur für Außenpolitik von »Neues Deutschland«. Von 1968 bis 1971 war er Mitarbeiter bei SED-Chef Walter Ulbricht. In dem hier veröffentlichten Text erinnert er sich an Entwurzelung und Neubeginn im Jahr des Kriegsendes.

Ich hatte mich geweigert, die Stadt ohne Schlingel zu verlassen, meinen Drahthaarfoxterrier. Meine Mutter hat mir nie erzählt, wie es ihr gelungen war, einen gestempelten Schein zu erhalten, der die Mitnahme des Hundes in der Bahn gestattete. Nun half uns der Schein, überhaupt in den Zug zu gelangen. Der sollte uns nach Bayern bringen. In Dresden hatten wir aussteigen wollen, um bei Verwandten unterzukommen. Wahrscheinlich wären wir zwei Wochen später, am 13. Februar, ums Leben gekommen wie mein Großonkel Otto, der uns aufnehmen wollte. Uns rettete ein anderer Bombenangriff auf Dresden, dessentwegen unser Zug umgeleitet wurde. Plötzlich, mitten in der Nacht, hielt er in Döbeln. Dort hatten bereits meine Großeltern Unterkunft gefunden. Aussteigen! sagte meine Mutter, und so erlebten wir das Ende des Krieges mitten in Sachsen.

Zunächst aber wurde sie für die letzten Monate des Dritten Reichs Arbeiterin in einer Munitionsfabrik, die eigentlich eine Zigarrenfabrik war. Und ich ging weiter zur Schule. Kurze Zeit später blieb ich, der Jüngste der Klasse, übrig, als der Volkssturm alle 15-Jährigen zu Soldaten machte. Die Schule wurde geschlossen. Die Amerikaner hatten Leipzig und die Sowjetarmee Dresden eingenommen. In dem Territorium dazwischen konnte man ein paar Wochen lang fast glauben, der Krieg sei zu Ende: Deutsche Soldaten waren kaum mehr zu sehen. Nur hin und wieder brausten amerikanische Jäger im Tiefflug über uns hinweg; und wenn man unterwegs war, musste man in Deckung gehen, weil sie manchmal Maschinengewehrsalven in die Gegend feuerten.

Gegen Ende April verbreitete sich das Gerücht, Döbeln solle Reichshauptstadt werden, wenn Berlin falle. In der Tat war die Gegend einer der wenigen noch nicht besetzten Teile Deutschlands. Eines Tages ging das Lauffeuer durch die Stadt, die Wehrmachtsdepots würden aufgelöst; und alle rannten los. Am nächsten Tag, am 6. Mai 1945, rollten Panzer- und Lastwagen unbekannter Bauart mit Soldaten in unbekannten Uniformen in die Stadt, und vom nahen Adolf-Hitler-Platz teilte eine scheppernde Lautsprecherstimme mit, Döbeln sei kampflos übergeben worden; britische Truppen hätten soeben die Stadt besetzt. So jedenfalls verstanden wir es - vielleicht, weil unsere Ohren noch nicht daran gewöhnt waren, dass russisch oder bolschewistisch nun sowjetisch war. Jedenfalls waren der Krieg zu Ende, die Nazizeit vorbei.

Was das bedeutete, begriff ich erst nach und nach. Zunächst einmal empfand ich mich als jemand, über dessen Volk eine fürchterliche Katastrophe gekommen war. Als Flüchtling hatte ich allerdings das Gefühl, dass in das Unglück, das mir selbst schon Monate zuvor widerfahren war, nun alle gestürzt waren. Niederschmetternd wirkten immer wieder von neuem die nun bekannt werdenden Tatsachen über das Nazireich. Es war ein Schock, dass der zum Halbgott erhobene Hitler und seine Paladine in Wahrheit schlimmste Verbrecher, Massenmörder gewesen waren, die das deutsche Volk in diese fürchterlichste Katastrophe seiner Geschichte geführt und die Nation der Dichter und Denker mit dem Blut des eigenen und anderer Völker besudelt hatten. Ich schämte mich, zu einem Volk zu gehören, das sich zu solch furchtbaren Untaten hatte anstiften lassen. Langsam begann ich aber zu verstehen: Das Leben war nicht zu Ende, sondern es fing jetzt erst richtig an. Deutschland hatte nicht nur eine totale militärische Niederlage erlitten, sondern das deutsche Volk war von der Herrschaft einer Verbrecherbande befreit worden. Aus dieser Erkenntnis entwickelte sich das »Nie wieder!«, das für mich wie für viele andere meiner Generation zur Grundeinstellung fürs ganze Leben geworden ist: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!

Klar war inzwischen, dass die grausigen Visionen der Nazipropaganda über das zu erwartende Wüten der bolschewistischen Horden nicht eintrafen. Man hatte im Gegenteil den Eindruck, dass die Besatzungsmacht an einer schnellen Normalisierung des Lebens der deutschen Bevölkerung interessiert war und sich bemühte, die Versorgung mit dem Nötigsten zu sichern. Übergriffe von sowjetischen Soldaten wurden offensichtlich streng geahndet. Sicher spielte dabei auch eine Rolle, dass Döbeln der sowjetischen Armee dank der Initiative einiger Sozialdemokraten und Kommunisten mit weißen Fahnen kampflos übergeben worden war.

Nicht vorbei war mit dem Ende des Krieges die Not. Zwar hatten wir das Glück, in einer Stadt zu leben, in der keine Häuser zerstört waren. Doch wie überall gab es wenig zu essen. Die geringen Mengen Brot, Mehl, Fleisch, Fett, Zucker auf den Lebensmittelkarten konnten nur zum Teil eingelöst werden. Und als Fremde hatten wir keinerlei Beziehungen zu Bauern umliegender Dörfer, die Einheimischen zu ein paar zusätzlichen Lebensmitteln verhalfen. In den ersten Tagen des Friedens gab es wie in den letzten des Kriegs keine Zeitungen, dafür Unmengen von Gerüchten, die großenteils einander widersprachen. Niemand wusste genau, was los war. Noch viel weniger, wie es weitergehen würde. Was sollte aus Deutschland werden? Wer würde es regieren? Wie sah es in Breslau aus?

In unserer Naivität erwarteten wir Flüchtlinge, über kurz oder lang in unsere Heimatorte zurückkehren zu können. Also wäre es sinnvoll, an Ort und Stelle nachzusehen, ob die Gerüchte über die schweren Zerstörungen zutrafen. Meine Mutter und ich waren die mobilsten in der Familie. Anfang Juni 1945, vier Wochen nach Kriegsende, fuhren wir los, gemeinsam mit einer Bekannten und meinem Hund. Aber schon in Nossen, nach etwa 20 von insgesamt fast 300 Kilometern, war die Bahnfahrt zu Ende. Weiter fuhr kein Zug. Wir hatten zwei Möglichkeiten: zurückzufahren oder die Reise zu Fuß fortzusetzen. Wir marschierten los.

Das Wetter war gut. Es war warm und regnete kaum, so dass man im Freien übernachten konnte. Einen Bach oder See zum Waschen fanden wir überall. Wir waren motiviert und kamen gut voran. Viele waren auf den Landstraßen unterwegs: Heimkehrer wie wir, Deutsche und Ausländer, von allen in alle Himmelsrichtungen. Hin und wieder konnten wir in sowjetischen Militärlastwagen ein Stück mitfahren. Mich nahmen die Soldaten meist mit ins Fahrerhäuschen, die Frauen und der Hund wurden auf der Ladefläche untergebracht. Deshalb bekam ich öfters etwas zu essen - meist Kommissbrot und Speck, manchmal auch einen Wodka dazu.

Unsere knappen Lebensmittelvorräte waren bald zu Ende, und wir mussten Reisepausen einlegen. Da die Erntezeit schon begonnen hatte, war es nicht schwer, Arbeit auf den Feldern und anschließend eine Mahlzeit zu bekommen, zumal die Männer noch nicht aus dem Krieg heimgekehrt waren und also Not am Mann war. Als wir uns Görlitz näherten, hörten wir, dass Deutsche nicht mehr über die Neiße gelassen würden, weil das Gebiet jenseits des Flusses an Polen übergeben werde. Also warteten wir, bis uns wieder ein Militärfahrzeug mitnahm - über die neue Grenze, die zwei Monate später vom Potsdamer Abkommen gezogen werden sollte. Nach zehn Tagen waren wir in Breslau.

Zwei Jahre später erfuhr ich, dass nicht weit von unserer Route entfernt ein paar Tage zuvor mein Vater in einem Lazarett gestorben war. Meine Mutter und ich fanden damals in einem leer stehenden Haus in Breslau Unterkunft und auch noch ein paar Lebensmittel. Ich hatte mir in schlechten Schuhen auf dem langen Weg Blasen gelaufen, die vereitert waren. Als ich wieder etwas humpeln konnte, zogen wir los, um die eigene Wohnung, die der Großeltern und anderer Verwandter und Bekannter aufzusuchen; jeden Tag in eine andere Gegend. Die Stadt war kaum wiederzuerkennen. Wo sich einst die Kaiserstraße als Magistrale entlang gezogen hatte, sahen wir die riesige Fläche des in die Stadt gesprengten Flugfelds. Eine einzige Maschine war dort gestartet: die mit dem Nazigauleiter Hanke, der aus der Festung Breslau geflohen war.

Fast überall fanden wir nur Ruinen. Unter den Trümmern lagen Leichen, die in der Sommerhitze verwesten. Am schlimmsten war es in der Gegend, in der wir gewohnt hatten. Dort gab es überhaupt keine Häuser mehr, kaum noch aufragende Ruinen, auch Straßen waren nicht mehr zu erkennen. Alles war ein einziges Schutt- und Trümmergebirge. Mit Müh und Not fanden wir die Stelle, an der unser Wohnhaus gestanden hatte. Wir erkannten sie schließlich an den verschmorten Resten meines Fahrrads. Einzig der Keller hatte standgehalten, er hatte offensichtlich Soldaten als Unterstand gedient; jedenfalls entdeckten wir dort eines unserer Sofakissen. Nicht weit entfernt lag ein totes Pferd. Eine breite Spur weißer Würmer zog sich von dort zur Leiche einer Frau in sowjetischer Uniform. Und unbeschreiblicher Gestank erfüllte die hitzeflimmernde Stille. Nie in meinem Leben werde ich das Bild vergessen, das sich mir dort - kurz vor meinem 15. Geburtstag - als schreckliches Symbol für die Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Krieges einprägte.

In der Innenstadt hatten wir ein Zimmer in einer kleinen Wohnung gefunden, deren anderen Raum ein junger polnischer Soldat bewohnte. Stasi, wie Stanislaw kurz genannt wurde, war Angehöriger der Wachmannschaft in einem Lager gefangener Deutscher, Kriegsverbrecher, wie er sagte. Meine Mutter wusch seine Sachen, kochte hin und wieder für ihn, und er versorgte uns gelegentlich mit Lebensmitteln. Wir hatten unseren Familiennamen an die Tür geschrieben. Stasi korrigierte Micke in Mieszkanie - auf polnisch: Wohnung. So begann unsere sprachliche Verständigung. Stasi konnte durch seinen Dienst im Lager schon viel besser Deutsch, als ich je Polnisch verstand. Noch besser konnte ich mich mit Nikolai verständigen, dem im Erdgeschoss wohnenden sowjetischen Hauptmann. Der hatte schon in der Schule Deutsch gelernt, vor dem Krieg.

In einem Schaukasten hatte ich einen langen Artikel in deutscher Sprache zum 125. Geburtstag von Friedrich Engels entdeckt. Beim Lesen hatte ich das Gefühl, dass sich Türen zu bislang unbekannten Räumen öffneten. Vor allem mit Nikolai konnte ich darüber sprechen. Er verstand es recht gut, mir ein paar Grundbegriffe marxistischen Denkens beizubringen - in einer Zeit, als deutschsprachige Broschüren und Bücher darüber noch nicht zu haben waren. Von Stasi erfuhr ich viel Interessantes über die kommunistische Armia Ludowa, der er als Unteroffizier angehörte, und die Armia Krajowa, die unter dem Einfluss der polnischen Exilregierung in London stand. Nun konnte ich mir auch die nächtlichen Schüsse erklären, die uns manchmal weckten und akustischer Ausdruck zuweilen blutiger Auseinandersetzungen zweier politischer Lager um die Macht im neuen Polen waren.

Anfang Dezember 1945 fuhr unser zweiter Zug aus Breslau ab. Es war einer der ersten Transporte, die Deutsche aus ihrer zerstörten und verlorenen Heimat ins restliche Deutschland zurückbrachten. Wir waren mit etwa 40 Leuten und deren Gepäck in einen Güterwagen gedrängt. Der Zug fuhr zunächst Richtung Osten und sofort wurde erzählt, wir würden nicht nach Deutschland, sondern nach Sibirien gebracht. Solche Gerüchte konnten sich leicht verbreiten, weil der Zug häufig hielt, manchmal stundenlang. Dann wurden am Bahndamm Feuer entzündet, alles mögliche Essbare wurde gegart. Und wie die Funken flogen auch die Ängste von Gruppe zu Gruppe. Schließlich aber schien der Lokführer den Kurs geändert zu haben, und nach zweieinhalb Tagen erreichten wir wieder die Oder, in Frankfurt.

Unsere Hoffnung, nun aussteigen und nach Döbeln weiterreisen zu können, erfüllte sich allerdings nicht: Auf beiden Seiten des Zuges standen Bewaffnete. Wir fühlten uns als Gefangene, als wir in Nachkriegsdeutschland einfuhren. Es war schon dunkel, da hielt der Zug wieder, und die Aufforderung kam: Aussteigen! Am Bahnsteig standen Fuhrwerke bereit, die uns weiterbrachten, in eine Barackensiedlung. Wir erfuhren, dies sei das Konzentrationslager Ravensbrück gewesen. Wieder wurden wir bewacht; natürlich musste dafür gesorgt werden, dass nicht alle Umsiedler in Grenznähe blieben. Wir jedenfalls sollten tags darauf nach Schleswig-Holstein weiterfahren. Mit unserem Gespannführer aus Fürstenberg verabredeten wir, dass er uns heimlich mit in die Stadt nahm. Über Berlin kehrten wir dann zurück nach Döbeln.

Zwei Erlebnisse hatten wir in Berlin, wo wir vom Stettiner zum Anhalter Bahnhof mussten. Das schöne: Auf dem S-Bahnhof Westkreuz trafen wir unverhofft meinen besten Freund Klaus und seine Schwester Bärbel aus Breslau, die auch nur auf der Durchreise einen Tag in der Stadt waren. Das unangenehme: Beim Warten auf die Straßenbahn war plötzlich - auch Schlingel erwies sich als unaufmerksam - das kleine Köfferchen verschwunden, das ich zwischen meine Beine gestellt hatte. Als ich’s merkte, war auf dem weiten Platz niemand mehr zu sehen. Verloren waren: zwei Lagen Wolle, aus denen mir Mutter einen Winterpullover hatte stricken wollen, ein Klingeltransformator und mein Zeugnisheft, das ich in meinem Klassenzimmer in der ansonsten fast völlig ausgebrannten Breslauer Schule gefunden hatte. Und damit auch der einzig übrig gebliebene Beleg meiner Identität vor 1945.

Was ich aber damals noch nicht wusste: Sechs Jahre nach diesem kurzen Zwischenaufenthalt als Flüchtling wurde Berlin fürs ganze Leben meine Heimatstadt.

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