Blair Witch für die Geschworenen

Kann der Einsatz von Körper-Kameras Polizeigewalt verhindern? Roberto J. De Lapuente verneint diese Frage. Für ihn kann mit den Kameraaufnahmen das Fehlverhalten von Beamten nicht bewiesen werden.

  • Lesedauer: 4 Min.

Manchmal ist man verzweifelt und dann glaubt man an Dinge, die man unter rationalen Aspekten ablehnen würde. Angesichts der Polizeigewalt gegenüber Schwarzen in den Vereinigten Staaten kann man natürlich verzweifeln. Sie reißt ja nicht ab. Und dann kommen eben Ideen auf, die kontraproduktiv sind. So wie die Body-Cam, die US-amerikanische Bürgerrechtler jetzt als Chance sehen, um tödliche Schüsse auf schwarze Bürger zu vereiteln. Wenn der Polizist einen kleinen Überwachungsapparat auf der Schulter montiert hat, dann wird er sich sicherlich noch mal vorher überlegen, was er da mit seiner in Uniform ausgestatteten Macht anstellt. Wer lässt sich schon dabei filmen, wie er einen unbewaffneten Teenager in den Rücken schießt? Oder einen wehrlosen Alten drangsaliert? So jedenfalls der Ansatz und die Theorie, die die Bürgerrechtler haben.

Dabei wissen wir doch mittlerweile nur zu gut, dass Kameraüberwachung noch nie Straftaten und Gewaltdelikte verhindert hat. Waren wir nicht alle Zuschauer, als in U-Bahn-Stationen Passanten verprügelt wurden? Haben wir nicht zugucken können, wie Tuğçe Albayrak in den Tod geschubst wurde? Überwachung hat uns nicht von Gewaltexzessen befreit, sondern uns bestenfalls zu Voyeuren gemacht, die zusehen konnten bei Übergriffen, von denen man vorher nur abstrakt aus der Zeitung erfuhr. Fahndungsformate wie »Aktenzeichen XY … ungelöst« bestehen fast nur aus Kameraaufnahmen, die zur Aufklärung dienen sollen. Vereitelt haben die Apparate, von denen die Täter wussten, aber nichts. Tilman Baumgärtel von der »tageszeitung« sieht es ähnlich: Kameras retten kein Leben. Auch die nicht, die auf Beamtenschultern sitzen. Wer das annimmt, verklärt das Wesen der Überwachung. Aber das mag - wie gesagt - der Verzweiflung geschuldet sein.

Bei der Body-Cam kommt noch ein spezielles Manko hinzu. Sie liefert Bilder, die unter rationalen Gesichtspunkten nicht auswertbar sind. Oder sagen wir so: Man kann sie natürlich auswerten, aber wie ehrlich und zutreffend sie sind, bleibt fraglich. Denn sie fabriziert Independentfilmbilder - verwackelte und verzerrte Aufnahmen, die Teile des Geschehens abschneiden oder einfach »übersehen« und die daher alle möglichen Mutmaßungen zulassen oder eben auch nicht. In etwa so, wie die Sequenzen in »Blair Witch Project«. Bei diesem Horrorstreifen wurde kontinuierlich mit Handkamera gefilmt und auf ein Stativ verzichtet, um einen dokumentarischen Anschein zu erzeugen. Wenn die Protagonisten rannten, wippte man als Zuschauer von links nach rechts, sah dort einen Baum, huschte hinüber zu einem Strauch, sah plötzlich bloß das Laub am Boden. Mit schwachem Magen konnte es einem regelrecht schlecht dabei werden.

Erkenntnisse über die Abläufe bekam man eher nicht. Man sah Abschnitte von Szenen, erhielt isolierte Einzeleindrücke, aber keinen Gesamteindruck. Plötzlich stand zum Beispiel der Gegenüber ganz nah. Als Zuschauer wusste man nicht so richtig, wie das geschah. Man hatte zwar den Eindruck, dass man so nah am Geschehen ist, wie es keinem ästhetisch gedrehten Hollywoodfilm je gelingen könnte. Dennoch lief man irgendwie neben den Ereignissen her und bekam noch weniger mit als üblich. Als klassischer Zuschauer war man Beobachter. Nun war man involviert und daher nicht aussagefähig.

Kurzum: Die Aufnahmen, die eine solche Kamera liefert, können einen Tathergang nicht lückenlos dokumentieren. Sie können leicht missinterpretiert werden. Man sieht einen Mann, der sich angenähert hat, eine kurze Aufnahme seines Gesichts, das vielleicht für den Bruchteil einer Sekunde nach Wut aussieht und dann wackelt alles. Vermutlich hat sich der Beamte stark in Bewegung gesetzt. Aber wieso, das weiß man nicht genau. Mit etwas Fantasie wird daraus leicht ein Angriff - auch wenn man darüber nichts Genaues sagen kann. Und dann ist das Opfer der Polizeigewalt ein potenzieller Täter, weil es die Bilder »erlauben«. Weil sie so verwackelt vor die Geschworenen gebracht werden, dass alles und nichts die Wahrheit sein kann. Bewiesen wird mit solchen Aufnahmen nichts. Außer vielleicht, dass der Magen etwaiger Geschworener besonders empfindlich ist, wenn das Video von oben nach unten saust wie bei einer Achterbahnfahrt.

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