Auf dem Platz zwischen den Stühlen

»Aufrecht, kämpferisch, liebenswürdig«: Der Oppositionelle, Grünenpolitiker und Theologe Hans-Jochen Tschiche ist tot

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 3 Min.

Bruder Tschiche, wie er manchmal sagte, wenn er über sich sprach, gehörte zu jenen Oppositionellen in der DDR, die auch nach deren Ende ihren kritischen Geist nie aufgaben. Er wollte nicht »Bürgerrechtler« genannt werden, weil das eine Bezeichnung war, die man später »im Westen« erfand. »Manche sagen ja über mich, ich sei ein Querulant. Aber das bin ich nicht«, waren einmal seine Worte. »Ich bin ein kritischer Zeitgenosse.«

Vor wenigen Tagen forderte er mit anderen die Evangelische Kirche dazu auf, sich für eine Denkschrift zu einer europäischen Friedensordnung einzusetzen. Er engagierte sich im Verein Miteinander gegen Rassismus und rechten Ungeist. Anfang des Jahres appellierte er mit anderen »gegen Ressentiment und Abschottung: Für die Werte von 1989« – es war dies ein wichtiger Aufruf gegen die rechte Pegida-Bewegung.

Abitur in Wittenberg, Studium der Theologie, Pfarrer, Kritik an der Niederschlagung des Prager Frühlings – das war sein Anlauf zu einer bis zuletzt politischen Biografie. Seit den 1980er Jahren in der Friedensbewegung der DDR aktiv, gründete er im Herbst 1989 das Neue Forum mit, mischte am Runden Tisch mit und wurde nach den Wahlen im März 1990 Abgeordneter der Volkskammer.

Die Demokratie ist nicht der Himmel
Hans-Jochen Tschiche über die Volkskammerwahl vor 20 Jahren, die DDR-Debatte und eine linke Mehrheit, März 2010

»Wir müssen unterwegs bleiben«
Wolfgang Hübner im Gespräch mit Hans-Jochen Tschiche, Januar 2000

Mit dem Herbst 1989, nein: damit, was davon übrig geblieben war unter schwarz-rot-goldenem Banner, Einheitseuphorie und schnellem Gang in die »Marktwirtschaft« hatte Tschiche seine Probleme. »Viele meiner Freunde aus der Opposition wollten die DDR reformieren und nicht im Westen ankommen«, schrieb er einmal – und das war auch an Joachim Gauck gerichtet, der inzwischen Bundespräsident ist. Es war ihm ein Graus, dass da jemand als »Erfüller« der friedlichen Revolution auf der Bühne stand, der seiner Meinung nach mit dem ursprünglichen Geist des Aufbruchs so wenig zu tun hatte. Gauck nannte er »die falsche Person« für das Amt.

»Wir waren die Türöffner, andere aber haben die Politik gemacht«, sagte Tschiche einmal. Und machte dann trotzdem auch selbst weiter. Bis 1998 Abgeordneter des Landtags in Sachsen-Anhalt, dort Fraktionschef der Grünen, später ihr Ehrenvorsitzender. Und: Einer der Väter des Magdeburger Modells, der ersten rot-rot-grünen Zusammenarbeit auf Landesebene. Die Tolerierung einer rot-grünen Minderheitsregierung durch die PDS ab 1994 war ein Meilenstein auf dem Weg zur Normalisierung des politischen Umgangs mit der aus der SED hervorgegangenen Partei. Hans-Jochen Tschiche konnte sich schon zu einer Zeit vorstellen, dass die PDS auch einmal einen Ministerpräsident stellen kann, als andere sich noch hinter Abgrenzungsbeschlüssen verbarrikadierten. Sein Motto: »Das ist in Demokratien so.«

Es war der Platz zwischen den Stühlen, auf dem sich Hans-Jochen Tschiche wohl fühlte. Am Donnerstag ist er im Alter von 85 Jahren in Magdeburg verstorben. »Aufrecht, kämpferisch, liebenswürdig«, so wird ihn nicht nur die grüne Bundestagsabgeordnete Steffi Lemke in Erinnerung behalten. Und ja, »du wirst verdammt fehlen«.

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