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Mein Leben, unsere Welt

Performances aus 15 Jahren als Gesamtkunstwerk: »Nezaket Ekici: Alles, was man besitzt, besitzt auch uns«

  • Manuela Lintl
  • Lesedauer: 4 Min.

Kürzlich trafen sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf einer Tagung im Berliner Brecht-Haus, um zu diskutieren, ob die Literatur heutzutage überhaupt noch in der Lage sei, Kapitalismuskritik zu betreiben und falls ja, in welcher Form? Zumal die vom homo consumens verursachten Katastrophen und Ungerechtigkeiten allgegenwärtig und zunehmend unüberschaubarer werden: Klimawandel, Artensterben, Menschenrechtsverletzungen, Armut, Kriege, Flüchtlingswellen … Zudem grassiert im Zuge einer reaktionär-aggressiven Tendenz des neoliberalen Kapitalismus in Europa eine Krise der repräsentativen Demokratie, ablesbar an Phänomenen wie Wahlmüdigkeit, Sozialabbau, Massenüberwachung, Korruption, religiösem Fundamentalismus, TTIP-Abkommen und nicht zuletzt der aktuellen Situation in Griechenland.

Die Frage nach der Produktion einer nicht bloß ästhetischen, sondern auch kritischen und wirkungsvollen Kunst angesichts der desolaten Lage stellt sich daher genauso für die bildenden Künstler, die sich gerne als Seismographen gesellschaftlicher Veränderungen verstehen. Dahinter steht der Anspruch, im Kunstwerk einen Spiegel der Gesellschaft zu erschaffen.

Naturgemäß ist die Performance - medial an der Schnittstelle von Konzept und darstellender Aktion angesiedelt und stets in direktem Kontakt und Interaktion mit dem Publikum - wohl am ehesten dazu geeignet, gesellschaftspolitische Inhalte berührend, provozierend und ansprechend zu übermitteln. Tatsächlich findet man hier häufig tiefgreifende, radikalere Positionen ambitionierter Kunst. Das Haus am Waldsee präsentiert derzeit eine solche und zeigt im ganzen ehemaligen Wohnhaus Arbeiten der 1970 in der Nähe von Ankara geborenen und in Duisburg aufgewachsenen türkisch-deutschen Performerin Nezaket Ekici.

Im Titel »Alles, was man besitzt, besitzt auch uns« setzt Ekici den Fokus auf die Hinterfragung des Freiheitsbegriffes einerseits und die spezifische Prägung eines jeden Menschen durch individuelle Erfahrungen andererseits. Beide Aspekte spielen in ihren Performances eine zentrale Rolle. Ekici agiert als in Deutschland sozialisierte türkische Frau und thematisiert Dualismen wie Mann und Frau, Körper und Geist, religiöse Bindung und Freiheit der Kritik. Im Haus am Waldsee bespielt sie jedes Zimmer der Villa mit einer anderen Arbeit. Als wiederkehrendes Gestaltungsprinzip bettet Ekici filmische Dokumentationen ihrer weltweit aufgeführten Performances in »environmentartig« gestaltete Räume ein. Als Entrée hat sie die blau gestrichenen Wände der Eingangshalle mit über fünfzig privaten »Family Portraits« in Petersburger Hängung übersät und ihren autobiografischen Ansatz unmissverständlich formuliert. Das angrenzende ehemalige »Damenzimmer« ist samt Dekor komplett mit roten Lippenstiftmündern dekoriert. Die multiple Lesbarkeit wird hier ganz deutlich: Die roten Kussmünder können ganz naiv die Wertschätzung der uns alltäglich umgebenden Dinge und Räume zum Ausdruck bringen aber auch obszön und anzüglich wirken.

Nezaket Ekici studierte zunächst Kunstpädagogik, Kunstgeschichte und Bildhauerei in München. Danach wechselte sie als Meisterschülerin von Marina Abramovic zu den Performing Arts. Formale und thematische Bezüge zu den Performances von Marina Abramovic sind deutlich. Auch die zierliche, agile und redefreudige Neciki lotet immer wieder mit Hilfe des eigenen Körpers physische und psychische Grenzen aus. Etwa wenn sie in einen klaustrophobisch engen goldenen Käfig steigt und in stundenlanger Anstrengung versucht, nach dem richtigen goldenen Schlüssel (nur einer von dreißig, die an Fäden rund um den Käfig herabhängen) zu greifen, um die Tür zu öffnen.

In verschiedenen Ritualen erkundet Ekici das Verhältnis von Kultur, Glaube und Freiheit in einer - wie eingangs geschildert - komplizierten Gegenwart. Poesie und Brutalität liegen dabei oft nah beieinander - genau wie im richtigen Leben. Die sinnlichen und pointierten Darstellungen entbehren nicht selten einer gehörigen Portion Humor, der sich manchmal aus Selbstironie speist.

Ekecis Ziel ist es jedoch nicht, etwas der Lächerlichkeit preiszugeben, sondern Gedanken anzustoßen und eingefahrene Sichtweisen zu verlassen. Sie möchte zwischen den unterschiedlichen Kulturen, die sie selbst geprägt haben, vermitteln. Und so entlarvt sie beharrlich die unsinnigsten Konventionen und Denkweisen oder legt weniger bekannte Gemeinsamkeiten offen.

Ekecis Selbsthinterfragung erfolgt mit einem Augenzwinkern, streng, aber nicht zu erbarmungslos im Umgang mit dem eigenen Körper als Kunstmaterial und Medium.

Bis zum 16. August, Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, Zehlendorf. Di-So 11-18 Uhr, Eintritt 7, erm. 5 Euro. Der Katalog erscheint im Juli. www.hausamwaldsee.de

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