Gaza - die vergessene Katastrophe

Heute vor einem Jahr begann der 50-tägige Krieg Israels im Gaza-Streifen

  • Von Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 3 Min.

Über den Dächern von Gaza wird das ganze Ausmaß erst wirklich sichtbar: Ganz Stadtteile sind ein Trümmerfeld aus Beton und Stahl, dazwischen notdürftig zusammen gezimmerte Hütten, in denen im Winter die Feuchtigkeit durch die Ritzen zieht und im Sommer die Hitze für erdrückende Schwüle sorgt.

So sieht ein Jahr nach dem Beginn des Gaza-Krieges nach wie vor die Lebenswelt vieler Menschen aus. In den Krankenhäusern hat das Personal von der Hamas Redeverbot bekommen. »Niemand soll erfahren, wie krank die Bevölkerung mittlerweile wirklich ist«, sagt ein Arzt und fügt hinzu, die Leute seien mittlerweile oft wirklich ernsthaft krank, wenn nicht körperlich, dann psychisch.

Viel tun können seine Kollegen und er dagegen nicht: Die komplexen Machtverhältnisse im Gaza-Streifen verhindern es. Kurz vor Kriegsausbruch hatten sich die Hamas und die im Westjordanland regierende international anerkannte palästinensische Regierung auf die Bildung eines Einheitskabinetts geeinigt; gemeinsam sollten künftig Polizisten aus Gaza und Westjordanland für Sicherheit sorgen. Doch die Regierung selbst bekam in Gaza nie einen Fuß in die Tür. Die offiziellen Sicherheitskräfte fanden sich in einem ständigen Machtkampf mit den Kassam-Brigaden, der Kampfgruppe der Hamas, wieder, die wiederum mit kleineren bewaffneten Gruppen um Einfluss kämpft.

Gruppen, die sich häufig über den Schwarzhandel finanzieren - zum Beispiel mit Zement: Dieser soll den Empfängern über einen komplexen Mechanismus zugeteilt werden, durch den verhindert werden soll, dass das Material für den Waffenbau eingesetzt wird. Doch sehr oft landet der Zement stattdessen auf dem Schwarzmarkt.

Dass sich dieser Markt überhaupt entwickeln konnte, liegt daran, dass eine sehr große Zahl von Menschen von den offiziellen Zuteilungen ausgeschlossen ist: Jeder, der mit der Hamas, oder einer der Milizen in Verbindung gebracht wird, darf auf israelischen Druck hin keinerlei Materialien erhalten, die auf der schwarzen Liste stehen. Wer am Ende Zement bekommen hat, steht vor einem noch größeren Problem: Irgendwie muss der Schutt weg. Und es mangelt an schwerem Gerät.

In Israel berichten derweil die Medien, die Hamas habe wieder mit dem Bau von Tunneln nach Ägypten begonnen, jenen Tunneln, die vor Jahresfrist im Laufe des Krieges als Begründung für den Einsatz von Bodentruppen im Gaza-Streifen angeführt wurden. In der neuen rechtsreligiösen Regierung wird deshalb bereits gefordert, Israel solle den nächsten Krieg vorbereiten; 2014 sei die Sache nicht zu Ende gebracht worden, wie man nun sehe, sagt der stellvertretende Verteidigungsminister Eli Dahan von der der Siedlerbewegung nahestehenden Partei Jüdisches Heim.

Der Generalstab mahnt zur Zurückhaltung. Die Militärstaatsanwaltschaft hat Ermittlungsverfahren im Falle von mehr als 20 Luftangriffen eingeleitet, bei denen die »Entscheidungsprozesse fehlerhaft« gewesen sein sollen. Untersuchungsberichte der Vereinten Nationen bescheinigen beiden Seiten Kriegsverbrechen: Man habe bewusst zivile Opfer in Kauf genommen. Nach offiziellen Angaben in Israel waren 44 Prozent der mindestens 2100 palästinensischen Opfer Kämpfer; 36 Prozent seien eindeutig Zivilisten gewesen.

Doch Hauptkritiker der Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, sind Israels Geheimdienste: Indem man nach der Entführung und Tötung von drei israelischen Jugendlichen im Westjordanland die Hamas habe schwächen wollen, habe die Regierung eine Situation herbeigeführt, in der ein Vakuum entstand, dass von militanten Gruppen wie dem Islamischen Staat zu füllen versucht wird, heißt es in einem Bericht an das Parlament. Wie ernst die Lage sei, sehe man daran, dass im Laufe der vergangenen Wochen mehrere Raketen auf Israel abgefeuert wurden, für die die Hamas nicht verantwortlich war.

Eine Einschätzung, die auch das UNO-Flüchtlingshilfswerk teilt: »Je länger der Wiederaufbau sorgt, desto mehr droht die politische Lage in Gaza ins Chaos abzudriften«, heißt es in einem Bericht. Gemessen am aktuellen Tempo würde es 30 Jahre dauern, bis alle Kriegsschäden beseitigt sind.

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