Die vierte Dimension

Einer der großen, beliebtesten ostdeutschen Schauspieler wäre heute 90: Rolf Ludwig

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Die vierte Dimension: Zu Lebzeiten zählte Rolf Ludwig zu den beliebtesten und besten Schauspielern in Deutschland. Er brillierte auf der Bühne wie im Fernsehen gleichermaßen. Am 28. Juli wäre der 1999 verstorbene Mime 90 Jahre alt geworden.

Schauspieler sind die verletzlichsten Kinder der Kunst. Jede Pore öffentlich, jedes Recht auf Scham befristet nur bis zum Vorstellungsbeginn. Dann das Peitschenlicht der Scheinwerfer, und die Leute im Publikum, sie blicken nicht nur, sie gaffen auch. Sich fortwährend anschauen zu lassen: Es ist neben Ausgeliefertsein auch Frechheit des Schauspielers - ist letztlich Opferung, die sich von Angriff nicht unterscheidet. An solch gelebter Logik kann man verrückt werden - oder ein Ver-Rückter sein, der auf offener Bühne allen etwas vormacht. Wofür? Für den schönen Weltzustand, dass die Menschen sich nicht mehr so viel vormachen lassen.

Rolf Ludwig eroberte die Bühne nicht, sie schien ihm gefällig zuzufallen, wie einem Schüler Wissen zufällt. Immer schien es, er könne es sich leisten, einfach nur da zu sein. Mit der immer etwas mürben Grazie anstrengungslosen Könnens. Mit einer müd geschmerzten listigen Melancholie in den traurig witzblinkenden Augen. Er hielt seine Figuren auf leichtem Fuß. Derwisch. Flackerndes Irrlicht. In ihm kollidierte etwas unendlich Lachbares mit etwas endlich Tragischem - was erst den wahren komischen Effekt machte. Das Leben auf der Bühne nahm er als grandiose Ausrutschbahn. Auf der er elegant schlurfschlenderte. Er griff nicht zu, er seiltänzelte entlang.

Der Geburtsort, 1925, ist Stockholm. Der Vater hat dort eine Kneipe. Fünfjährig wird Rolf Dresdner. Später Kampfflieger. Im vorletzten Jahr des Krieges schießen ihn Briten über Holland ab. Im britischen Gefangenenlager bei Sheffield kommt er in die »Theaterbaracke«. Eine andere, lebenslange Gefangenschaft nimmt ihren Lauf, wird zur Laufbahn. Mit den Stationen Lübeck, Dresden, Metropoltheater Berlin, Berliner Ensemble, Volksbühne, und ab 1965, mit Unterbrechungen: Olymp - Deutsches Theater Berlin.

Der dreiköpfige »Drache« von Jewgeni Schwarz in Benno Bessons legendärer Inszenierung am DT: ein Wesen der mannigfachen Köpfe und Gestalten, ein verführerischer Meister der Täuschung - einmal vital und sinnlich, dann greisenhaft verfallen, dann wieder jammernd und schmierig, dazwischen böse, eiskalt und grausam. Ludwig lieferte ein Virtuosenstück der Verwandlungskunst, über 600 mal hat er die Rolle gespielt, 17 Jahre lang stand die Inszenierung auf dem Spielplan. Bei Besson war er auch der Sganarelle, Diener des »Don Juan« (Reimar Joh. Baur); neben Günter Junghans gab er den Gennadi in Ostrowskis »Wald« von Karge/Langhoff; unter beider Regie auch: Othello. Arbeit mit Wolfgang Heinz, Fritz Marquardt, Andrea Breth, Thomas Langhoff (»Die Jüdin von Toledo«, »Der Turm«), kurz: ein jahrzehntelanges Leben auf der Bühne, im Film und im Fernsehen (»Der Hauptmann von Köln«, »Der Dritte«, »Trotz alledem«, »Ich zwing dich zu leben«, »Levins Mühle«, »Nikolaikirche«). Es ist gauklerische Ursprünglichkeit, die speziell mit dem Namen Ludwig verbunden bleibt; spontaner Prunk der Selbstdarstellung und doch auch eine nahezu sakrale Feier des hochliterarischen Sinns; er verkörperte all das schöne Hochfahrende und Niedrige, das Klamaukige und Kalauerische, das bebend Lustige und das geliebt Gelogene seiner Profession. Ludwigs Spiel sah so aus, als steuere er nicht auf seine Figuren zu, sondern als umkurve er sie lässig, leichtköpfig, übermütig, unbekümmert, mit hinterhältiger Güte und gereckter Unverfrorenheit. Theater war für ihn überall, und um sich gewissermaßen selber zu besetzen, dafür gab es genügend Örtlichkeiten: eine Kantine, eine Boulevardzeitung, eine Skatrunde, wieder eine Kantine.

Unvergesslich sein Kellner Mager in Egon Günthers DEFA-Film »Lotte in Weimar«. Das Feld zwischen literarisch Vorgefundenem und spielerischer Erfindung wurde durch den Komödianten Ludwig zu einer Produktionsfläche, die dem Werk eine neue Hauptfigur schuf. Der Film war nicht Lilli Palmer oder Martin Hellberg, dieser Film war, ist und bleibt Rolf Ludwig. Der Regisseur: »Ludwig erzeugt diese Figur, er transportiert sie vom Papier in die vierte Dimension: Länge, Breite, Höhe, die vierte Dimension heißt Kunst.« Das meint jene bedingungslose Seelenhaftigkeit, ohne die dieser Schauspieler nicht denkbar ist und ohne die er nie so sichtbar geworden wäre. Seelenhaftigkeit, die Ludwigs Soldaten im DEFA-Kinderfilmklassiker »Das Feuerzeug« mit all seinen künftigen, gebrochenen Gestalten verbindet.

Dass Ludwigs erster Theatertriumph Goldonis »Diener zweier Herren« an der Volksbühne war und er Jahrzehnte später für den Schauspieler Stein in Egon Günthers gleichnamigem Film in Italien einen Fellini-Preis erhält, erscheint wie ein Ringschluss: Da der quirlige Truffaldino in durchnervt-reißerischer Vitalität und Doppelspiellaune - dort jener von Realität ausgezehrte Künstler Stein, ein Lear der DDR, der in die innere Emigration flieht, sich an Wirklichkeit reibt, bis nah an die Wahnsinnsnähe - weil er, des Spiels beraubt, kein Mensch mehr sein kann. Welch eine Ferne zwischen beiden Figuren, aber auch welcher Zwang, beides zusammenzudenken. Tut man’s, so erscheint Ludwigs Karriere wie ein Nebenzweig von italienischem Volksrealismus, dessen eigentlicher Kern, bei aller leichtsinnigen, glücklich gedankenlosen Gaukelei, doch immer - die Krise ist.

Denn wer spielen will, so wie es Ludwig als Truffaldino begann, der bleibt immer gefährdet, wenn er dies Spiel so ernst nimmt wie Stein. Und so glich Ludwigs Schauspielerei stets auch einem Schutzraum, dessen böses Paradoxon darin besteht, dass dieser Schutz nur dem gewährt wird, der sich absoluter Schutzlosigkeit hingibt. Und wer Ludwig einmal Wolfgang Borchert lesen sah und hörte (das Kriegstrauma), der weiß spätestens seit diesen Momenten um das unlösbare Problem, sich in die Kunst retten zu wollen. Aber es muss das Komödiantengemüt her, das den Schmerz zumindest - verwandelt.

Sage einer, was er will: Der Tod ist eine Pointe - die aber einen erheblichen Nachteil hat: Man kann sie nicht selber machen. Deshalb haben die wahren Komödianten, diese Menschen, die konsequent von der Pointe leben, allergrößte Probleme mit dem Tod. Sie mögen ihn nicht - also spielen sie besonders heftig um ihr Leben. Rolf Ludwig hat gespielt. Bis zuletzt. Als Amtsdiener Mitteldorf, in Thomas Langhoffs Inszenierung »Der Biberpelz« war er zum Schluss noch einmal ein ausgemergelter Großmeister. Wenn der Applaus bei jeder Vorstellung gerade für ihn zu einem donnernd dankbaren Salut wurde, blickte Ludwig glücklich ins Publikum. Und er dankte seinerseits - für jene Woge Gunst, die weiterzuleben hilft. Von Abend zu Abend, denn nur in solcher Frist läuft die Daseinsuhr des Spielers. Noch der beglückendste Applaus schließt Abschiedsahnung ein.

Heute wäre dieser große deutsche Schauspieler neunzig Jahre alt geworden. Er starb 1999 - just am 27. März, dem Welttheatertag. Wie gesagt: Ein Komödiant lässt keine Pointe aus.

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