Nimm die rote Pille

Athens Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis erklärt in seinem neuen Buch in einfachen Worten die Wirtschaft

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 3 Min.
Der ausgebeutete Lohnarbeiter ist wichtigster Stützpfeiler der Marktwirtschaft. Besonders schlimm wird seine Lage, wenn er niemanden findet, der seine Arbeit haben will.

Die für deutsche Leser überraschendsten Sätze schreibt Yanis Varoufakis in seinem neuen Buch gleich zu Anfang des Vorwortes zur hiesigen Auflage: »Ich war noch zu jung, um zu verstehen, was meine Eltern da gebannt am Radio hörten, aber meine kindliche Phantasie sah Deutschland als eine Quelle der Hoffnung«, erinnert sich der griechische Ex-Finanzminister an die »düsteren Jahre« der Militärdiktatur. Damals hörten er und seine Eltern heimlich die Deutsche Welle, die für ihn in der Rückschau »den wichtigsten Beistand der Griechen gegen die erdrückende staatliche Propaganda darstellte«.

Diese Sätze passen so gar nicht ins Bild, das die Medien hierzulande von Varoufakis zeichnen: »Der Lügner«, titelte schon mal die »Bild«. Während der Verhandlung zwischen Athen und der Troika wurde er zum Hassobjekt schlechthin stilisiert - quasi der »verrückte Pleitegrieche, der nur an unser hart erarbeitetes Steuergeld will«. Doch Varoufakis hat genug von den gegenseitigen Anfeindungen. »Dieses Buch ist nicht als Schmährede auf Europa, auf Deutschland, auf Griechenland oder auf sonst etwas gedacht, was meine Tochter langweilen würde«, schreibt der streitbare Ökonom in seinem am Montag erschienen Buch »Time for Change«.

Schließlich lautet der Untertitel: »Wie ich meiner Tochter die Wirtschaft erkläre«. Und so ist es auch geschrieben. Varoufakis kommt ohne das übliche Fachchinesisch aus. Stattdessen beschreibt er anhand von Geschichten, die vom abendlichen Besuch in der Taverne über antike Mythen bis hin zu modernen Science-Fiction-Filmen reichen. Und so weit ist auch der Horizont, den er auf knapp 180 Seiten zu fassen versucht. Von der Entstehung des Geldes in Mesopotamien bis hin zur aktuellen Staatsschuldenkrise fasst Varoufakis jedes wichtige Thema der Wirtschaftswissenschaften an.

Sein Motto dabei: Nimm die rote Pille. Wie der Protagonist Neo in dem Science-Fiction-Klassiker »Matrix« soll der Leser aus der »trügerischen Scheinwelt« des Systems ausbrechen, die die Mainstream-Ökonomen, die EU-Kommission, die »erfolgreichen Werbefritzen« einem einzureden versuchen. Stattdessen soll man mit dem kritischen Denken anfangen.

Dabei kam das Übel für Varoufakis schon sehr früh in die Welt: als die Menschen erstmals mit dem Ackerbau einen Überschuss produzieren konnten. Dieser wurde schon bald sehr ungerecht. Der wohl wichtigste Unterschied der heutigen Zeit zu vorkapitalistischen Tagen: Aus Gesellschaften mit Märkten wurden Marktgesellschaften; der Tauschwert wurde zum alles dominierenden Prinzip des Wirtschaftens.

Hört sich an wie bei Marx, wird sich der im wissenschaftlichen Sozialismus geübte Leser denken. In der Tat liest sich Varoufakis Buch stellenweise wie eine populäre, upgedatete Version des »Kapital«. Dabei zitiert der griechische Ökonom Karl Marx nur ein Mal. Die Hinweise auf dem großen Denker bleiben implizit. Das Wort Kapital kommt nicht vor und aus dem Marx’schen Gebrauchswert wird der Varoufaki’sche Lebenswert. Am auffälligsten sind die Parallelen da, wo der Autor die Herausbildung des wichtigsten Elements der Marktwirtschaft im vorindustriellen England beschreibt: die Vertreibung der Bauern von ihren Feldern. Was würden die Menschen heute machen? »Wir wären wahrscheinlich ins erste Dorf gelaufen, hätten an die Tür geklopft und gesagt: ›Für ein Stück Brot und ein Dach über dem Kopf verrichten wir jede Arbeit, die ihr von uns verlangt‹«, so Varoufakis. Der »doppelt freie Lohnarbeiter« (Marx) war geboren.

Eine der größten Miseren, die diesen Arbeitern zustoßen können, ist es, keinen zu finden, der ihm seine Arbeitskraft abnehmen will. Dies passiert in Griechenland derzeit jedem Vierten. Varoufakis erinnern diese Joblosen an einen Faust, »der von Mephisto für den Verkauf seiner Seele einen immer geringeren Gegenwert fordert, während Mephisto, statt sich auf den Handel einzulassen, immer weniger Neigung zeigt, diese Seele haben zu wollen«.

Yanis Varoufakis: Time for Change. Carl Hanser Verlag, München 2015, 179 Seiten, 17,99 €.

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