Arithmetische Demokratie

Wie uns die sozialen Netzwerke den permanenten Wahlkampf brachten. Ein Gastbeitrag von Robert Feustel.

  • Robert Feustel
  • Lesedauer: 7 Min.
Soziale Netzwerke galten einst als Verheißung zukünftiger Demokratie. Nun sind sie triste Gegenwart. Die digitale Maschine sorgte dafür, dass die Politik permanent auf den Volkswillen reagiert. Mittlerweile ist immer Wahlkampf.

Noch vor einigen Jahren war das Gejammer groß. Die Menschen hätten nichts mehr mit Politik am Hut, sie seien verdrossen vom korrumpierten System und unehrlichen Politikern. Die Demokratie sei in eine Krise geraten, weil zwischen Regierung und Bevölkerung ein zu tiefer Graben existiere und die Leute nicht mehr wüssten, warum sie wählen gehen sollen. Gegenwärtig wird sich wohl niemand über mangelndes Interesse und mangelnde Teilhabe beschweren. Im Gegenteil. Allerorten ist die Verwunderung darüber groß, dass sich Bürger in Heerscharen und mit Klarnamen an Hasstiraden in sozialen Medien beteiligen und ihren Unmut bzw. ihr dumpfes Ressentiment zum Ausdruck bringen. Damit tun sie wie ihnen geheißen: Sie beteiligen sich. Die Politik reagiert nur noch darauf und richtet sich zugleich in einem arithmetischen Repräsentationsspiel ein, das mit der alten, demokratischen Idee nicht mehr viel gemein hat.

Was wurde nicht alles unternommen, um das Volk an die Wahlurnen zu schleifen und ihm nahezulegen, dass es sich für Politik zu interessieren habe. Förderprogramme, Wahlomat, Beteiligungsinitiativen, Werbespots etc. Noch vor fünf Jahren galt es als ausgemacht, dass in naher Zukunft Wahlen stattfinden, und keiner geht hin. Davon ist heute kaum noch etwas zu vernehmen. Versenkt und vergraben sind all die Plattitüden und Phrasen, die zum Mitmachen animieren sollten. Heute wären viele froh, wenn sich der Sturm der Beteiligung, den die sozialen Netzwerke ermöglicht haben, legen oder auf die Wahlzettel beschränken würde. Plötzlich ist der Stammtisch virtuell, und alle können lesen, was wohl länger schon dort kolportiert und gedacht wurde.

Der Autor

Robert Feustel beschäftigt sich mit politischer Theorie, Kultur- und
Subjektphilosophie sowie Wissenschaftsgeschichte. Er ist Politikwissenschaftler und arbeitet seit Oktober 2014 als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Leipzig.

Permanentes Feedback

Was einst als Verheißung zukünftiger Demokratie galt, ist mittlerweile triste Gegenwart. Die neuen Medien haben einen vielstimmigen Chor hervorgezaubert, der sich unmittelbar mit politischen Dingen auseinandersetzt und vergleichsweise direkt reagiert. Zwar handelt es sich um ein Stimmengewirr, aus dem nur schwer klare Argumente zu destillieren sind. Jenseits inhaltlicher Fragen hat sich allerdings ein Sog entwickelt, der jedes Statement und jede Entscheidung zumindest theoretisch einer unmittelbaren Überprüfung durch das Demos unterstellt.

Dieser Trend bzw. diese Möglichkeit ist den politischen Akteuren nicht verborgen geblieben. Dies zeigt sich einerseits daran, dass immer mehr politische Würdenträger und Institutionen in den sozialen Medien mittun wollen. Sie beschäftigen Expertengruppen und bespielen das Netz so gut sie können. Andererseits haben sich reaktive Verhaltensmuster eingespielt, die an vorderster Front Angela Merkel beherrscht und beherzigt wie kaum jemand sonst. Ihre erstaunliche Passivität, ihre von Taktikfüchsen als geschicktes Abwarten gedeutete Untätigkeit, lässt sich so quasi-demokratisch interpretieren: Sie tut, fast egal worum es geht, zunächst nichts, bis die Heerscharen an Statistikern, Meinungsforschern und Marketingexperten ermittelt haben, mit welcher Haltung und welchem Statement sie sich der Zustimmung der meisten Bundesbürger sicher sein kann.

Das ist der andere Teil des Spiels, den die erwähnten Experten und Agenturen bespielen. Sie sondieren in immer dichteren Abständen Stimmungsbilder und analysieren, wie Mehrheitsverhältnisse zu sichern sind und die Volksseele zufrieden gestellt werden kann. Die allseits beklagte Schwäche der Eliten hat auch damit zu tun: Ihre Richtlinienkompetenz hat sich auf ein Ping-Pong-Spiel mit dem Feedback zusammengezogen. Die Angst, die Gunst der Wähler einzubüßen, bestimmt in Echtzeit das Verhalten. In Sachsen etwa kann sich die Regierung ziemlich sicher sein, dass die planlose und menschenunwürdige Unterbringung von Geflüchteten ihr mehr nützt als schadet. Sie erkennt, dass sie dafür mehrheitlich Zustimmung erntet, so bitter das ist.

Die alten Zyklen von Wahl zu Wahl hatten freilich auch ihre Tücken. Sie provozierten eine teils bizarre Differenz zwischen Wahlkampf und Regierungspraxis. Die digitale Maschine, die stille Revolution der Algorithmen, die schnell und einfach Daten verarbeiten, Profile erstellen und Meinungsbilder generieren, hat allerdings erheblich dazu beigetragen, dass die Politik auf den Volkswillen reagiert. Mittlerweile ist immer und beständig Wahlkampf. Das ließe sich als Verwirklichung der Demokratie verkaufen, vorausgesetzt man wäre bereit, Demokratie als nichts anderes denn als endlose Feedbackschleife, als arithmetisches Verfahren und Erfassung der Stimme des Volkes zu verstehen.

Die viel diskutierten Dynamiken im Mediengeschäft tragen ihr Scherflein dazu bei. Auch hier galt die Digitalisierung einst als Hoffnung, eingefahrenen Redaktionen und meinungsbildenden Monopolen gehörig Dampf zu machen. Auch hier stand die Perspektive in Aussicht, dass die Pluralisierung einem vielgestaltigen, demokratischen Wissen auf die Beine helfen könnte. Mittlerweile sickert die Einsicht durch, dass die beinahe endlose Anzahl der Stimmen zu einer absurden Frequenz an Nachrichten und Statements führt. Kein Beitrag hallt mehr längerfristig nach und entfaltet Wirkung. Man kann sich darauf verlassen, dass die nächste Welle an Meldungen die zurückliegende überdeckt, verdrängt und in den Reigen veralteter Statements einsortiert. Die Aufmerksamkeitsökonomie der Konsumenten leidet an einer Überlast und zieht sich, folgerichtig beinahe, auf die Rezeption von Headlines zurück. Gleichzeitig unterliegt der digitale Journalismus einem Diktat der Klickzahlen, weil sich nur darüber Geld verdienen lässt. Die Arithmetik der Zugriffe hat auch hier das Zepter übernommen.

Unter dem Strich entsteht eine eigenwillige Kombination aus mundgerecht servierten und teils bis zur Unkenntlichkeit vereinfachten (und damit nicht selten verfälschten) Beiträgen auf der einen Seite und einer rastlosen Feedbackmaschine auf der anderen, der sich die Politik unterworfen hat.

Weil aber Demokratie länger schon als arithmetisches Abstraktum verhandelt wird, weil sie spätestens seit den großen Debatten um Politikverdrossenheit als Mitmachspiel bar jedes Inhalts beschrieben wurde, fehlt einer substantiellen Kritik dieser Praxis der legitime Boden. Wer etwas gegen den Status quo des Verfahrens einwendet, gilt schnell als Extremist oder wird dem Lager dessen kleiner Schwester zugerechnet: dem Populismus.

Wenn Demokratie tatsächlich, wie heute üblich, nicht viel mehr als Wahlarithmetik bedeutet, wenn sie sich nur noch in Balkendiagrammen und binär codierten Fragen ausdrückt, dann nähern wir uns ihrer vollständigen Umsetzung. Noch nie war das Feedback der Bevölkerung so intensiv, so unvermittelt, so schnell. Noch nie konnten Experten dem Volk so genau auf's sprichwörtliche Maul schauen und umgehend hochrechnen, welches Verhalten in der konkreten Situation die meiste Zustimmung auf sich ziehen dürfte. Optimierte Feedbackströme, eine gut gölte kybernetische Maschine und das Diktat der Mehrheit, das schon Alexis de Tocqueville als Problem der Demokratie ausmachte: Gegenwärtig handelt es sich weniger um eine Krise der Demokratie. Vielmehr erleben wir ihre tatsächliche Verwirklichung, auf Kosten ihrer theoretischen Kontur.

Der heute so geheiligte Begriff Demokratie hat lange Zeit etwas anderes bedeutet. Repräsentation und Wahl sind zwar ein Teil davon, aber wahrlich nicht mit ihr identisch. Viel wichtiger, viel fundamentaler als der Weg, Vertreter zu ernennen, ist das demokratische Eingeständnis, dass es keine wahre, richtige oder zwangsläufige Ordnung der Gesellschaft gibt. Als die Demokratie über das alte Griechenland hereinbrach, war ihr wesentlicher Zug, die alte Ordnung, die Hierarchie durcheinanderzuwirbeln und im Zentrum der Gesellschaft (auf der Agora) die Kontingenz zu platzieren. Nicht zufällig war das Losverfahren für die Ämtervergabe ein prominenter Weg. Weder Gott, Geld noch Abstammung rechtfertigen in letzter Instanz irgendeine festgelegte Ordnung. Demokratie war ein Akt der Selbstermächtigung derjenigen ohne Anteil, der »Unvernommenen«, wie der französische Philosoph Jacques Ranciere es nennt. Demokratie war einst der Name dafür, dass gesellschaftliche Verhältnisse und Machtstrukturen immer wieder und immer wieder neu ausgehandelt werden müssen – unter Beteiligung vor allem jener, die zuvor ohne Einfluss waren.

Heute hat sich die kybernetische Maschine, der Ist-Zustand, selbst zum Gott erhoben und lässt keinen neben sich zu. Der Name Demokratie ist zum arithmetischen Funktionsprinzip geschrumpft. Inhalte und ethische Prämissen wurden vom Herrschaftsmodell Demokratie abgekoppelt. Solange die Maschine läuft, herrscht Demokratie. Die Auswüchse eines solchen vertrockneten Demokratiebegriffs lassen sich dieser Tage etwa in der Türkei bestaunen. Da wird der Friedensprozess mit den Kurden ausgesetzt und ein blutiger Konflikt forciert. Immer wieder ist als (zumindest eine) Begründung dafür zu lesen, dass Premier Erdogan hofft, mit diesem Manöver konservative und nationalistische Wähler hinter sich zu einen – mit dem Ziel, die nächste Wahl zu gewinnen. Was hat eine solche Wahl noch mit Demokratie zu tun?

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